Lira-Absturz

Wie Erdoganomics die Türkei währungspolitisch isolieren

Die Gefahr, dass sich der Lira-Kollaps zu einem Flächenbrand auswächst, halten Experten anders als in früheren Währungskrisen für überschaubar. Zu weit hat sich die Türkei vom monetären Mainstream entfernt.

Wie Erdoganomics die Türkei währungspolitisch isolieren

Von Stefan Reccius, Frankfurt

Wenn die Notenbanker in der Türkei Mitte Dezember zu ihrem turnusmäßigen Zinsentscheid zusammenkommen, ist alles möglich. Das Land taumelt in eine immer heftigere Währungskrise. Die Spekulationen reichen von einer Notfallzinserhöhung samt personellen Konsequenzen an der Zentralbankspitze über Tatenlosigkeit bis zu einer weiteren kräftigen Zinssenkung, die für die Lira wie Brandbeschleuniger wirken würde.

Was auch passiert: Die Gefahr, dass sich der Lira-Kollaps zu einem Flächenbrand auswächst, der auf andere Schwellenländer übergreift, halten Experten anders als in früheren Währungskrisen für überschaubar. Der Grund: Die Türkei hat sich so weit vom monetären Mainstream entfernt, dass ihr Handeln irrational und absonderlich wirkt. Alle führenden Schwellenländer sehen sich mit massiven Preisschüben und allmählich steigenden US-Kapitalmarktzinsen konfrontiert, was ihre Währungen unter Druck setzt. Sie haben aber – allen voran Brasilien und Russland – teils aggressiv die Leitzinsen erhöht, um der Inflation Einhalt zu gebieten und Abwertungswettläufe im Keim zu ersticken (siehe Grafik).

Ganz anders die Türkei. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogans Verteufelung hoher Zinsen und seine ureigene ökonomische Weisheit, dass hohe und nicht niedrige Zinsen zu Inflation führen, sind inzwischen legendär. Unter Experten macht der Begriff „Erdoganomics“ die Runde. Seinem Zinssenkungsdiktat hat die Zentralbank Folge geleistet – trotz inzwischen mehr als 20% Inflation. Gulcin Ozkan, Expertin für internationale Finanzen am Londoner King’s College, sieht in der Währungspolitik der Türkei „ein Paradebeispiel, wie man nicht mit Zinsen umgehen sollte“. Wochenlang war die Lira im freien Fall. Die Inflationsrate hält der Währungsexperte Steve Hanke von der Johns Hopkins University wie einige Oppositionspolitiker in der Türkei noch für drastisch untertrieben. Hanke schätzt anhand eigener Berechnungen, dass diese viermal höher liegt als offiziell angegeben.

Erdogan strickt die Legende vom „wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg“. Sie ist eine Anspielung auf die Gründungsgeschichte der modernen türkischen Republik, die 2023 100 Jahre alt wird – just wenn Erdogan bei den Präsidentschaftswahlen die Macht seiner 2001 von ihm gegründeten Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, kurz AKP, zementieren will. Dafür hat er sich die Geldpolitik untertan gemacht.

Einer der wenigen verbliebenen Trümpfe an den Finanzmärkten sind die geringen Staatsschulden. Die Ratingagentur Moody’s betont seit Monaten Sorgen um die Geldpolitik, sieht aber von einer Herabstufung ab und hat soeben lediglich den negativen Ausblick bestätigt. Fitch hat von stabil auf negativ gesenkt – ein Warnhinweis, dass auch die Sorgen der Bonitätswächter wachsen. Der Blick nach Südafrika zeigt, dass selbst in einem hoch verschuldeten Schwellenland, dessen Staatsanleihen mit Ramsch bewertet sind, eine Zentralbank Hort von Stabilität und Glaubwürdigkeit sein kann. Erdogan hingegen wettert lieber gegen „Finanzakrobaten“ und lässt den Lira-Absturz auf Manipulation untersuchen.

An eine baldige Rückkehr zu orthodoxer Geldpolitik ist kaum zu denken: Notenbankchef Sahap Kavcioglu hat sich seit seinem Amtsantritt im März als willfähriger Gefolgsmann Erdogans erwiesen. Ein plötzlicher Sinneswandel scheint unplausibel – zumal eine Notfallzinserhöhung seine Karriere abrupt beenden könnte. Seit Erdogan dank einer Verfassungsänderung freie Hand bei der Besetzung der Notenbankspitze hat, mussten binnen zwei Jahren drei Zentralbankchefs gehen. Auch der Griff zu den Währungsreserven dürfte sich einmal mehr als untaugliches Mittel erweisen. Zwei Interventionen am Devisenmarkt sind bereits verpufft, auch weil Erdogan zwischenzeitlich seinen Finanzminister feuerte. Leisten kann sich die Zentralbank die Interventionen ohnehin nur, weil sie sich bei Notenbanken im arabischen Raum mittels Swap-Vereinbarungen Devisen geliehen hat – quasi Währungsstabilisierung auf Pump.

Was tun? Währungsexperte Hanke meint: „Die einzige Möglichkeit, die Währung zu retten, ist die Einrichtung eines Währungsausschusses.“ Dessen einzige Aufgabe bestünde darin, die Lira zu einem festen Wechselkurs gegen Dollar oder eine andere Ankerwährung zu tauschen. Andere Beobachter spekulieren über die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen. Eine Intervention des Internationalen Währungsfonds (IWF) hat Erdogan hingegen ausgeschlossen – ein weiterer Schritt in die währungspolitische Isolation.

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