Zeit ist Geld
Der Schweizer Franken befindet sich gerade auf einem Höhenflug. Oder genauer gesagt: Der Wert eines Euro ist im Vergleich zur helvetischen Valuta in den Dezimalbereich gefallen. Der Euro sei damit wohl endgültig „unter die Parität zum Franken“ gefallen, lautet der hiesige Konsens. Was die Herzen mancher Schweizer Konsumenten höher schlagen lässt, wenn sie zur Erledigung ihrer Wocheneinkäufe über die Grenze fahren, ist für die Exporteure ein ständiges Ärgernis – im Prinzip. Tatsächlich hat der jüngste Euro-Zerfall in der Industrie kaum öffentlich vernehmbare Klagen ausgelöst. Natürlich hat die Welt gerade noch ein paar andere große Probleme. Aber der Euro steht offenbar auch sonst nicht mehr zuoberst auf der Sorgenliste der Schweizer Exporteure.
In Europa steigen die Preise im Jahresvergleich derzeit um durchschnittlich fast 9%. In der Schweiz um weniger als 3,5%. Viele Beobachter gehen davon aus, dass diese große Divergenz noch längere Zeit Bestand haben oder sich vielleicht sogar noch verstärken könnte. Zum Ausdruck kommt der Pessimismus eben im Euro-Franken-Kurs. In den vergangenen zwölf Monaten hat die Gemeinschaftswährung deshalb mehr als 11% auf den Wert des Franken verloren.
Auch wenn die Schweizer Exporteure ihren Ärger über den Euro-Zerfall herunterschlucken – verflogen ist er deshalb nicht. Ein mit dem Schreibenden privat bekannter Möbelschreiner, der seine wertvollen Einzelstücke seit vielen Jahren auch im Euroland absetzt, gab sein persönliches Leid unlängst in einer hübschen Anekdote zum Besten: Der Einzelunternehmer hatte einem italienischen Kunden nahe an der Schweizer Grenze soeben eines seiner hübschen Möbelstücke abgeliefert und die Treibstoffkosten für die transalpine Lieferung des Möbels mit dem eigenen Auto gleich in bar einkassiert. Weil dies öfter mal so geschehe, führe er jeweils eine altmodische Euro-Kasse mit sich. Nach getaner Arbeit und zur Stärkung für die lange Heimfahrt habe er sich in dem schmucken Dorf seines italienischen Kunden noch ein kleines, feines Nachtessen genehmigt und den dafür fälligen Betrag in Höhe von 52 Euro und 35 Cent aus der mitgeführten Barkasse abgezählt. Er habe sich nach dem Essen deshalb die Zeit genommen, das viele Kleingeld minutiös abzuzählen, um den geschuldeten Euro-Betrag wenigstens zum Teil in Münzen zu bezahlen. Als der Schweizer Gast dem italienischen Wirt den Geldhaufen zusammen mit einigen kleinen Noten über den Tisch geschoben habe, habe sich dieser wenig erfreut gezeigt. Er habe jetzt keine Zeit, diesen Münzenberg auszuzählen, bekam der Gast zu hören. Er solle den Betrag mit einem praktischeren Zahlungsmittel begleichen. Dieser wehrte sich und sagte dem Wirt, dann müsse er halt darauf vertrauen, dass der vorliegende Geldhaufen den richtigen Betrag ergebe. Das aber fand der Wirt auch keine gute Idee – erst recht nicht, als er sah, dass in der Kasse des Schreiners noch einige größere Euro-Noten lagen. Der Wirt verlangte, mit diesen Noten statt mit den vielen Münzen bezahlt zu werden. Doch der Gast blieb stur und beharrte darauf, das Münz jetzt loszuwerden.
Es entbrannte ein Wortgefecht, in dem der Wirt die Münzen als „wertlos“ bezeichnet haben soll. „Mit dieser Bemerkung trieb er mich zur Weißglut“, erinnert sich der Schreiner: Der Wertzerfall des Euro habe ihm in den vergangenen 20 Jahren eine Einkommenseinbuße von 40% beschert. „Wie kommt nun irgendein Wirt auf die Idee, dass ich für ihn auch noch die Arbeit erledige, den geminderten Wert der vielen Münzen auf dem Haufen zusammenzuzählen“, fragt er rhetorisch.
Bevor man auseinandergegangen sei, habe er seinem Gastgeber erklärt: „Ihr Euroländer habt vor 20 Jahren aus einem Becher mit zwölf verschiedenen Moneten eine Gemeinschaftswährung herausgeschüttelt. Inzwischen wissen wir, dass es sich dabei bloß um italienische Lira im neuen Gewand handelt.“ Der Wirt habe mit den Schultern gezuckt und zu verstehen gegeben, dass ihn an diesem Ergebnis kein Verschulden treffe. Der Gast ahmte die Geste nach und verließ das Lokal wortlos. Der Münzhaufen blieb dort liegen. Was der Wirt damit gemacht hat, ist nicht bekannt. Vermutlich schaufelte er ihn ungezählt in die Kasse – ganz nach dem Motto: Zeit ist Geld.