Europäische Union

Zunehmend ratlos

Die Herausforderungen, für die Europa jetzt Antworten finden muss, sind komplexer als in der Coronakrise. Die EU wirkt zunehmend ratlos.

Zunehmend ratlos

­Wohl selten zuvor in ihrer Geschichte hatte es die Europäische Union mit einer solch komplexen Krisen-Gemengelage zu tun: Ein Krieg in der Nachbarschaft. Inflationsraten, die die Eurozone bislang noch nie gesehen hat. Eine Energiekrise mit explodierenden Strom- und Gaspreisen, die ihresgleichen sucht. Immer mehr Unternehmen, welche die außergewöhnlichen Belastungen nicht mehr tragen können. Hinzu kommt der Klimawandel, der sich immer deutlicher zeigt und nach entschlossenem Handeln verlangt.

Überall und in allen Institutionen der EU wurde zuletzt nach Antworten gesucht – ob beim Krisentreffen der Energieminister in Brüssel, den informellen Beratungen der Finanzminister in Prag, im Plenum des Europaparlaments in den vergangenen Tagen in Straßburg oder von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer „Rede zur Lage der Union“. Überall gab es zwar Ideen und Lösungsansätze, was aber nichts daran ändert, dass Europa in der aktuellen Krise zunehmend ratlos wirkt.

In der Corona-Pandemie war die Lage noch übersichtlicher. Da ging es – grob zusammengefasst – in der Gesundheitspolitik darum, das Virus einzudämmen, und in der Wirtschaftspolitik darum, Milliarden an Hilfsgeldern über die betroffenen Unternehmen und Branchen auszuschütten. Dies ist so heute nicht mehr möglich. Die Eurogruppe sieht sich dazu verpflichtet, allenfalls eine neutrale Fiskalpolitik zu fahren und Unterstützungsmaßnahmen für die Wirtschaft nur noch sehr gezielt gutzuheißen. Der Kampf gegen die Inflation hat für die Finanzminister absolute Priorität. Fiskal- und Geldpolitik sollten jetzt Hand in Hand gehen, heißt es. Doch wie lange wird dieser Kurs durchzuhalten sein, wenn immer mehr, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen in die Knie gehen und die Rufe nach neuen staatlichen Hilfspaketen immer lauter werden? Hinzu kommt, dass die EU-Kommission aus dem Corona-Wiederaufbaufonds noch mehr als 200 Mrd. Euro an ungenutzten Krediten zu verteilen versucht, was ebenfalls ein neuer Inflationstreiber sein könnte.

In der Energiepolitik scheinen die EU-Staaten und die Kommission mittlerweile zumindest beim Strom- und Gassparen sowie beim Abschöpfen von exorbitanten Gewinnen von Versorgern eine gemeinsame Gesprächsbasis gefunden zu haben. Allein dies ist schon ein Erfolg angesichts der zahlreichen nationalen Alleingänge zuvor, die auf einem integrierten europäischen Energiemarkt nicht wirklich Sinn ergeben und nur die Preissignale weiter verzerren. Angesichts der sehr unterschiedlichen Erzeugungsstrukturen auf den nationalen Strommärkten dürfte die Abschöpfung von mehr als 140 Mrd. Euro, wie sie der EU-Kommission vorschwebt, aber noch mehr als herausfordernd werden. Selbst wenn dies technisch gelingt, würden die potenziellen Mittel zum Umverteilen in den einzelnen Ländern wohl recht unterschiedlich hoch ausfallen. Und auf einen solidarischen Ausgleich zwischen den 27 EU-Staaten sollte derzeit besser niemand setzen. Ohnehin ändern diese Notfallmaßnahmen ja nichts grundsätzlich an der Importabhängigkeit der EU und den zu geringen Erzeugungskapazitäten im Bereich der Erneuerbaren. Für die Energiewende ist das von der Kommission im Mai vorgelegte „Repower“-Programm daher viel wichtiger.

Ihre Antwort auf den russischen Einmarsch in die Ukraine hat die EU anfangs schnell, geeint, klar und überzeugend gegeben. Doch sowohl die Sanktionspolitik gegenüber dem Kreml als auch der bedingungslose Unterstützungskurs gegenüber der Ukraine scheint so langsam an Grenzen zu stoßen – allem Pathos von der Leyens zum Trotz. Neue Sanktionen sind in den Mitgliedsländern kaum noch einstimmig durchzusetzen. Und dass die erste größere Tranche der schon im Mai vorgeschlagenen Makrofinanzhilfe über 9 Mrd. Euro für Kiew erst in diesen Tagen grünes Licht erhalten hat, spricht Bände. Im EU-Haushalt ist aktuell nichts mehr zu holen. Weitere Milliarden können nur noch mit nationalen Garantien fließen, was schwierige Debatten bedeutet. Dabei ist der teure Wiederaufbau des Landes noch weit weg.

Ohnehin müsste von der Leyen eigentlich auch den dringend nötigen inneren Reformprozess der EU vorantreiben, um überhaupt die Grundlage für eine spätere Mitgliedschaft der Ukraine zu legen. Doch davon war in ihrer „Rede zur Lage der Union“ nichts zu hören – obwohl die Konferenz zur Zukunft der EU hierfür viele Vorlagen geliefert hat. Auch zur Zeitenwende in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat Brüssel derzeit nichts beizutragen, was einmal mehr zeigt: Die Krisenantworten der EU sind längst nicht ausgereift.

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