Labour-Führer im Fokus

Aus Tottenham ins Zentrum der Macht

David Lammy hat seine Erwartungen angepasst. Er rechnet nicht mehr damit, dass Großbritannien in die EU zurückkehrt.

Aus Tottenham ins Zentrum der Macht

Vom Chorknaben zum Aushängeschild für New Labour

von Andreas Hippin, London

David Lammy (51) erzählt gerne die Geschichte vom kleinen schwarzen Jungen aus Tottenham, dem man so etwas nicht zugetraut hätte. Der Labour-Außenpolitiker wird nach den Parlamentswahlen aller Wahrscheinlichkeit nach David Cameron im Foreign Office ablösen. Doch ist seine Geschichte auf den zweiten Blick weitaus komplexer, sein sozialer Aufstieg viel erstaunlicher.

Mit seiner Frau, der Porträtkünstlerin Nicola Green, kommt er auf Platz 2 im Tatler Social Power Index. Für gewöhnlich finden sich dort Milliardäre, Adelige und ihre Freundinnen. Lammys Eltern kamen aus Guyana nach Großbritannien. Er wuchs als eines von fünf Kindern im multikulturellen Londoner Arbeiterviertel Tottenham auf, dessen Bewohner er seit Juni 2000 im britischen Unterhaus vertritt.

Ein begnadeter Chorknabe

Seine Mutter arbeitete im U-Bahnhof Camden, sein Vater war Tierpräparator. Als sein Geschäft unterging, wurde er zum Alkoholiker. Lammy galt als begnadeter Chorknabe. Das verhalf ihm zu einem Stipendium der renommierten King's School in Peterborough, wo er der einzige schwarze Junge im Schlafsaal war. Von hier stammt der Knabenchor der Kathedrale von Peterborough.

Die Kombination von Chorproben und hohen akademischen Anforderungen prägte Lammy. „Wenn ich nicht hierhergekommen wäre, wäre ich kein Politiker geworden“, zitiert ihn das „Sunday Times Magazine“. „Ich wäre vielleicht nicht einmal aus Tottenham herausgekommen.“

Transatlantische Verbindungen

Er machte seinen Abschluss in Jura an der School of Oriental & African Studies (SOAS) in London, wurde als Anwalt zugelassen und studierte als erster schwarzer Brite an der Harvard Business School. Er hat starke Verbindungen über den Atlantik. Die Sommer verbrachte er bei Verwandten in Brooklyn und Queens, wo er für den Versorger Con Edison arbeitete.

Er arbeitete als Anwalt in Kalifornien, bevor er nach Tottenham zurückkehrte, um für das Unterhaus zu kandidieren. Und er freundete sich bei einem Treffen schwarzer Harvard-Alumni mit einem anderen Absolventen an: Barack Obama, für den er bei seiner ersten Kandidatur für das Amt des US-Präsidenten Wahlkampf in Chicago machte. In Obamas Büro in Washington hängt ein von Green angefertigtes Porträt des ersten schwarzen US-Präsidenten.

Politisches Chamäleon

Seitdem ein Sieg von Donald Trump bei den US-Wahlen im November nicht mehr ausgeschlossen werden kann, fragen sich viele, ob Lammy als Außenminister auch mit den Republikanern klarkäme. Immerhin hatte er Trump auf Twitter als „rassistischen Sympathisanten des Ku-Klux-Klans und der Nazis“ beschimpft, als Frauenhasser und Soziopathen.

Ob er seine Tweets als Hinterbänkler bedauere, fragte ihn das Magazin. „Wahrscheinlich schon“, lautete seine Antwort. Wie Parteichef Keir Starmer gilt Lammy als äußerst wandlungsfähig. Manche nennen ihn ein politisches Chamäleon. Er lobte „Hillbilly Elegy“, die Memoiren von J.D. Vance, eines US-Senators aus Ohio, der Trump enthusiastisch unterstützt, in den höchsten Tönen. Sie erinnerten ihn an seine eigene Geschichte.

Starker Glaube

Auch Lammy hat seine Memoiren geschrieben. Sie erschienen 2011 unter dem Titel „Out of the Ashes“. „Ich habe zu J.D. gesagt, schau mal, wir haben unterschiedliche politische Ansichten, aber wir sind beide ziemlich starke Christen und hatten beide eine harte Kindheit“, wird Lammy von der „New York Times“ zitiert.

Nachdem er sich bei der Parlamentswahl 2000 in Tottenham gegen die Mutter von Suella Braverman durchsetzte, wurde er zum Aushängeschild für New Labour. Tony Blair machte ihn zum Staatssekretär. Er war bis 2003 mit der MTV-Ansagerin June Sarpong zusammen. Lammy wurde Kulturminister. Unter Gordon Brown hatte er ebenfalls Kabinettsposten inne.

„Progressiver Realismus“

Progressiver Realismus“ nannte er seinen Ansatz für die Außenpolitik in einem Essay für das Magazin „Foreign Affairs“. Was man darunter verstehen soll, wird nicht ganz klar. Allerdings geht es wohl darum, den Abschied von einstigen Idealen als Realismus zu verkaufen. Dazu gehört das Bekenntnis zur britischen Atom-U-Bootflotte. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte er deren Abschreckungspotenzial noch verneint und sie als nutzlos bezeichnet.

Auch seine Hoffnungen, der EU-Austritt könnte rückgängig gemacht werden, hat der erbitterte Remainer offenbar begraben. Seine Partei strebt zwar eine Verbesserung der Beziehungen mit dem Kontinent an, aber keinen Wiedereintritt in den Handelsblock. „Ich glaube nicht, dass das im Laufe meines politischen Lebens passieren wird“, sagte er dem „Sunday Times Magazine“.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.