Eine Bank wie eine Landarztpraxis
Von Thomas Spengler, Stuttgart
Wenn beim Stein die Tür offensteht, wissen die Kunden, jetzt kann ich auch ohne Termin kurz eintreten. In seinem kleinen Büro der Raiffeisenbank Tüngental, irgendwo hinter Schwäbisch Hall, pflegt Andreas Stein gerne den persönlichen Kontakt zu den 1016 Mitgliedern der Bank – und zwar „auf Augenhöhe“, wie er betont. In dieser unkomplizierten Direktheit liegt auch die Ursache für den Erfolg des 63-Jährigen, der zum Jahresbeginn sein 40. Jubiläum an der Spitze einer Bank feierte, was ihn zum am längsten amtierenden Bankvorstand in Deutschland ausweist.
Begonnen hatte die Karriere des überzeugten Genossenschaftsbankers am 1. Januar 1982, als der damals 24-Jährige bei der bayerischen Raiffeisenbank Günz im Sinne des neu eingeführten Vier-Augen-Prinzips in die Geschäftsführung, später Vorstand, einzog. Nachdem Stein im bayerischen Roggenburg eine Raiffeisenbank saniert hatte, klingelten 2009 schließlich die Headhunter der zum Genossenschaftsverbund gehörenden Geno-Consult und lockten ihn ins hohenlohische Tüngental. Tatsächlich hat der gebürtige Memminger in dem 1500-Seelen-Dorf einen Ort gefunden, wo er die genossenschaftliche Idee von der Hilfe zur Selbsthilfe aufblühen lassen kann. „Danach gibt es in solch turbulenten Zeiten wie diesen eine große Sehnsucht“, sagt er, der zusammen mit seinem Vorstandskollegen Jörg Schmitt (43) die 1900 gegründete Bank führt. Hinzu kommen zwei weitere Mitarbeiterinnen sowie zwei Angestellte auf 450-Euro-Basis, alles überzeugte Genobanker. Am Morgen arbeitet Stein in seinem Büro, am Nachmittag ist er beim Kunden. „Wir führen die Bank wie eine Art Landarztpraxis“, sagt der dreifache Familienvater, der erst 2020 mit seiner Frau nach Tüngental zog, nachdem er zuvor von Memmingen täglich gependelt ist. Immer geht es ihm darum, Probleme der Kunden zu lösen – und das kann bei Stein sehr schnell gehen. „Innerhalb von 20 Minuten kann ich über einen Kreditantrag von Privatkunden entscheiden“, sagt er. Sofort zu wissen, woran man ist, das mögen die Leute offenbar. 2021 gewann die Bank 100 neue Mitglieder hinzu, im Vorjahr waren es 80. Darunter sind viel junge Kunden, die auf Online-Banking nicht verzichten müssen. „Dass es uns gibt, spricht sich herum“, freut sich Stein. Ohnehin fordert er mehr „echte Genossenschaftsbanker“, die ohne Zielvereinbarungen die Probleme der Kunden lösten und ihnen keine Anlagen aufdrehen wollten, die diese nicht brauchten. „Ja, ich bin auch ein Rebell“, sagt er, der sich auch mit Kritik an den Genossenschaftsverbänden in Bund und Land nicht zurückhält. Diese seien „weit weg von der realen Welt ihrer kleinen Mitgliedsbanken“. Ebenso viele große Institute, die die Kunden nicht mehr persönlich erreichten.
Die Baufinanzierungen, die er macht, sind solide abgesichert, mit einer Beleihungsgrenze von höchstens 90%. Die Bilanz der Raiffeisenbank Tüngental ist simpel. Rechts Einlagen, 2021 rund 15% mehr als im Vorjahr, links Immobiliendarlehen. Keine Derivate oder so, macht Stein klar. Und weil die Dorfbank mit eigenem Wertpapiergeschäft überfordert wäre, hat man es an die DZBank ausgelagert – mit einer kleinen Marge für Tüngental. Dafür kann sich Vorstandskollege Schmitt fulltime auf sämtliche Anforderungen der Regulatorik konzentrieren. Anders wäre es auch in Tüngental nicht zu packen. Unterm Strich blieb 2021 ein Betriebsgewinn von 230000 Euro übrig – 130000 Euro mehr als zu Steins Amtsantritt 2009. Die Kernkapitalquote von 16,7% ist Basis weiterer Geschäfte, das Wachstum der Bilanzsumme 2021 von 52 auf 60 Mill. Euro rasant. Und so soll’s weitergehen. Mit künftigem Wachstum gilt es, die Selbstständigkeit des Hauses zu sichern.
Wenn Stein dann am Nachmittag wie ein Landarzt über die Dörfer fährt, hört er sich die Themen seiner Kunden an, besichtigt frisch finanzierte Ställe oder Traktoren und bringt gehbehinderten Kunden auf Wunsch Bargeld persönlich vorbei. „Damit sind wir unverwechselbar“, sagt er. Hinzu kommt, dass er es nach Absprache mit den Dorfbürgermeistern der drei Nachbargemeinden Wolpertshausen, Bibersfeld und Gailenkirchen erreicht hat, in den dortigen Rathäusern Beratungsstellen der Bank einzurichten, die am Mittwochnachmittag geöffnet sind.
Zurück ins Dorf
Damit kam die Bank wieder zurück ins Dorf, denn Stein geht es auch um die Weiterentwicklung des ländlichen Raums. Nicht von ungefähr hat die Bank 2019 die Gaststätte „Hufeisen“ vor Ort erworben und ihr neues Leben eingehaucht. An anderer Stelle plant der Dorfbanker eine Wohnbebauung, wo heute ruinenartige, ehemalige Stallungen verfallen. „Wir wollen ins wohnwirtschaftliche Neubaugeschäft einsteigen, indem wir ehemalige Bauernhöfe zum Leben erwecken“, sagt er. Für diese Idee hat sich Stein mit der Volksbank Hohenlohe zusammengetan, die in enger Verbindung zu Bauträgern steht.
Wie aber sieht die Zukunft für Stein persönlich aus? Nun, zehn Jahre will er schon noch machen, sagt der genossenschaftliche Überzeugungstäter. Weil er dann aber gut über 70 Jahre alt sein wird, muss auf der Generalversammlung im Juni noch die Satzung der Raiffeisenbank Tüngental entsprechend angepasst werden. Sobald dies aber vollzogen ist, steht nach heutigem Stand einem 50-jährigen Vorstandsjubiläum von Andreas Stein nichts im Wege. Den Titel des Bankvorstands mit den meisten Dienstjahren in Deutschland dürfte ihm bis dahin ohnehin kein anderer streitig machen.