„Das wahre Problem ist die mangelnde Nachfrage nach Aktien“
Helmut Kipp
Herr Professor Schlitt, die Bundesregierung bringt ein Zukunftsfinanzierungsgesetz auf den Weg. Was sind die Kernpunkte des Vorhabens?
Ziel der Gesetzesinitiative ist es, den deutschen Kapitalmarkt zu stärken und insbesondere Start-ups, Wachstumsunternehmen und kleineren und mittleren Unternehmen (KMU) den Zugang zum Kapitalmarkt und die Aufnahme von Eigenkapital zu erleichtern. In diesem Zug sollen viele finanzmarktrechtliche, gesellschaftsrechtliche und steuerliche Regelungen geändert werden. Das Gesetzesvorhaben knüpft an die Listing-Act-Initiative der EU-Kommission an, durch die das gesetzliche Regelwerk für den Kapitalmarktzugang und die Zulassungsfolgepflichten auf europäischer Ebene reformiert werden soll.
Wird der Kapitalmarkt als Finanzierungsquelle ausreichend eingebunden?
Positiv ist zunächst zu konstatieren, dass die Bundesregierung den Kapitalmarkt als Finanzierungsquelle vor allem für KMU attraktiver machen möchte. Die Bedeutung des Kapitalmarkts als alternative Finanzierungsmöglichkeit – gerade im Verhältnis zur traditionellen Kreditfinanzierung – hat die Bundesregierung erkannt. Aber gerade kleinere mittelständische Unternehmen hatten es in der Vergangenheit schwer, einen Börsengang erfolgreich umzusetzen und sich dauerhaft am Kapitalmarkt zu etablieren. Eine andere Frage ist allerdings, ob der Gesetzgeber die richtigen Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels ergreifen wird.
Führen niedrigere Kapitalmindestanforderungen tatsächlich zu mehr Börsengängen?
Keineswegs, leider. Die geplante Herabsetzung des Mindestkapitals (Eigenkapital oder Börsenkapitalisierung) eines Börsenkandidaten von derzeit 1,25 Mill. auf 1 Mill. Euro geht völlig ins Leere. Da selbst kleinere Unternehmen eine Marktkapitalisierung von mindestens 50 Mill. Euro aufweisen müssen, um überhaupt auf Investoreninteresse zu stoßen, setzt man an einer Vorgabe an, die praktisch noch nie eine Rolle gespielt hat.
Setzt der Gesetzgeber sonst die richtigen Akzente?
Ja, es gibt eine Reihe guter Ansätze. Besonders begrüßenswert ist der Vorschlag, das enge aktienrechtliche Korsett für Kapitalerhöhungen zu lockern. So deutet das Eckpunktepapier an, dass die Emission von neuen Aktien oder Wandelanleihen mit Bezugsrechtsausschluss unter erleichterten Voraussetzungen möglich werden soll. Das Volumen für bezugsrechts- und prospektrechtsfreie Kapitalerhöhungen auf 20% des Grundkapitals zu erhöhen, wurde in der Vergangenheit schon vielfach zu Recht angeregt. Auch wäre es zu begrüßen, wenn bei der Festsetzung des Platzierungspreises und des Abschlags zum Börsenkurs größere Flexibilität bestünde.
Zudem will der Gesetzgeber Mehrstimmrechtsaktien zulassen.
Dies stellt aus deutscher Perspektive einen Paradigmenwechsel dar, nachdem das Prinzip „One share, one vote“ über lange Zeit ein nahezu unumstößliches Dogma dargestellt hat. Ganz überraschend kommt der Vorschlag indessen nicht, da Aktiengattungen mit unterschiedlichem Stimmrechtsgewicht in einigen europäischen Jurisdiktionen wie Niederlande und Italien sowie den USA bereits seit längerer Zeit zulässig und in der Praxis gerade bei Technologieunternehmen sehr verbreitet sind. Auch eine von der EU-Kommission eingesetzte Expertengruppe hatte eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen. Mit Mehrstimmrechten können Gründer im Zuge des IPOs ihre kontrollierende Beteiligung trotz Verkauf eines Teils ihrer Aktien erhalten.
Wie stehen Anleger dazu?
Die Beteiligten müssen bedenken, dass ein solches Emissionskonzept – ähnlich wie bei der Ausgabe von Vorzugsaktien oder einem als Kommanditgesellschaft auf Aktien strukturierten Emittenten – auf Zurückhaltung bei Investoren treffen kann, so dass die Aktien nur zu einem Discount platziert werden können und die Nachfrage im Sekundärmarkt nur eingeschränkt ist, was zu einer eingeschränkten Liquidität und einer geringeren Attraktivität der Aktien führen kann.
Was ist außerdem geplant?
Schließlich sollen sogenannte Special Purpose Acquisition Companies (Spacs) in einer deutschen Rechtsform errichtet und nackte Optionen auch zu Finanzierungszwecken emittiert werden können. Bislang hat das starre deutsche Aktienrecht beide Strukturen nicht ermöglicht. Daher mussten Spac-Initiatoren nach Luxemburg oder in die Niederlande ausweichen, um Spac-Vehikel aufzusetzen. Zwar ist die Spac-Welle abgeklungen. Einen sicheren Rechtsrahmen für Spacs, Blind Pools oder Cash Boxes zu haben, ist aber sicherlich wünschenswert.
Werden damit die zentralen Probleme angegangen?
Nein, noch nicht. Das wahre Problem bei Börsengängen deutscher Mittelstandsunternehmen ist die mangelnde Nachfrage nach Aktien. Die mangelnde Kaufbereitschaft professioneller Investoren bei Mid-Cap-IPOs veranlasst den Emittenten und die begleitenden Konsortialbanken häufig dazu, das Emissionsvolumen zu reduzieren. Dies hat dann eine Verringerung des Streubesitzes und damit eine nicht zufriedenstellende Liquidität der Aktie im Sekundärmarkt zur Folge. Dies wiederum macht Folgeemissionen für solche Emittenten zu einer besonderen Herausforderung. Die Zurückhaltung gegenüber Investitionen in Wachstumsunternehmen ist leider insbesondere bei deutschen Investoren anzutreffen. Ausländische Investoren zeigen sich risikobereiter und sind bei IPOs deutscher Unternehmen in der Mehrheit. Dieses zentrale Problem wird im Eckpunktepapier nicht adressiert.
Was müsste getan werden, um das Nachfrageproblem zu lösen?
Hier lohnt sich ein Blick ins Ausland. Die USA und die skandinavischen Länder haben gezeigt, dass Pensionsfonds eine wichtige Funktion bei der Finanzierung von Wachstumsunternehmen spielen können. Die USA haben bereits 1974 mit dem Employee Retirement Security Act den Weg für eine stärker wertpapierbasierte Altersvorsorge bereitet. Ähnliches gilt in den skandinavischen Ländern. So muss in Schweden ein Teil der Rentenbeiträge in private, staatlich organisierte Fonds angelegt werden, die dann in Aktien im In- und Ausland investieren. Eine solche aktienbasierte Altersvorsorge ist auch in Deutschland vonnöten. Zudem sollten die rechtlichen Rahmenbedingungen für Lebensversicherer flexibilisiert werden, damit der Aktienanteil in ihren Portfolien substanziell steigen kann.
Welche Rolle hat das Steuerrecht?
Flankierend sollte über steuerliche Erleichterungen für Aktieninvestoren nachgedacht werden. So würde es etwa helfen, wenn Veräußerungsgewinne nach einer bestimmten Haltefrist steuerfrei vereinnahmt werden könnten. Diese Maßnahmen mögen politisch nicht populär sein. Würde man hingegen solche Akzente zur Stimulierung der Nachfrageseite setzen, würde sich die Transaktionssicherheit für Börsengänge von Wachstumsunternehmen ganz maßgeblich erhöhen. Das würde den deutschen Kapitalmarkt massiv stärken.
Welche Bedeutung haben Privatanleger in dem Konzept?
Privatpersonen sollen nach dem Papier incentiviert werden, verstärkt in Aktien zu investieren. Dahinter steht der Wunsch der Bundesregierung, die Aktienkultur in Deutschland generell zu verbessern. So soll das Aktiensparen gefördert werden, indem man einen Freibetrag für im Privatvermögen erzielte Veräußerungsgewinne einführt. Zudem soll in bestimmtem Umfang eine Verrechnung von Verlusten aus Aktiengeschäften möglich sein. All diese Maßnahmen gehen in die richtige Richtung. Sie werden allerdings das Problem der erschwerten Vermarktbarkeit von IPOs mittelständischer Unternehmen allein nicht lösen können.
Wie wichtig ist in diesem Kontext die Beteiligung von Mitarbeitern am Unternehmenskapital?
Ich halte die Mitarbeiterbeteiligung für ein sehr wichtiges Instrument zur langfristigen Bindung von Fach- und Führungskräften in Unternehmen. Daher ist es zu begrüßen, wenn der Gesetzgeber Mitarbeiterbeteiligungen durch Erhöhung des steuerlichen Freibetrages fördern möchte. Schon im vergangenen Jahr wurde er durch das Fondsstandortgesetz auf 1440 Euro pro Jahr angehoben. Nun soll er durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz erneut erhöht werden.
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