Die Energiekrise wird die Gerichte beschäftigen
Von Daniel Schnabl *)
Jede grundlegende Krise führt in der Folge zu Rechtsstreitigkeiten. Dies haben wir in der Finanzkrise ab dem Jahr 2008 gesehen und auch in jüngerer Zeit im Zuge der Corona-Pandemie, die die Gerichte in vielerlei Hinsicht beschäftigt hat. So gab es beispielsweise eine Vielzahl von Rechtsstreiten über die Frage, welche Auswirkungen der Lockdown auf laufende Mietverträge über Gewerbeimmobilien hat, die während des Lockdown praktisch nicht nutzbar waren. Dazu gab es divergierende Gerichtsentscheidungen der Instanzgerichte bis der Bundesgerichtshof am 12. Januar 2022 in einem viel beachteten grundlegenden Urteil (Az.: XII ZR 8/21) entschied, dass die Pandemie eine Störung der Geschäftsgrundlage begründen und zur Anpassung bestehender Verträge führen kann.
Dabei verbietet sich nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs eine pauschale Betrachtungsweise, wie sie die Instanzgerichte zuvor teilweise mit einer simplen Halbierung der Gewerberaummiete vorgenommen haben. Maßgeblich sind nach dem Urteil vielmehr stets sämtliche Umstände des Einzelfalls, um zu bestimmen, ob dem Mieter ein Festhalten an dem Vertrag mit seinem bisherigen Inhalt zumutbar ist.
Der Grund, warum eine Krise in der Folge immer zu diesbezüglichen Rechtsstreitigkeiten führt, liegt auf der Hand. Jede grundlegende Krise kann zu schwerwiegenden Auswirkungen auf bestehende Vertragsverhältnisse führen, die die Vertragsparteien bei Vertragsschluss meist so nicht vorhergesehen und entsprechend auch nicht ausdrücklich vertraglich geregelt haben. Dies birgt Auslegungsspielraum und mithin Streitpotenzial. Die wirtschaftlichen Auswirkungen können dabei je nach Art der Krise so bedeutsam sein, dass sie für ein Unternehmen existenziell werden und eine gerichtliche Auseinandersetzung über die Auslegung bzw. Anpassung bestehender Verträge unvermeidbar wird.
So können sich auch eine etwaig drohende Energieknappheit bzw. erheblich gestiegene Energiepreise auf zahlreiche Vertragsverhältnisse grundlegend auswirken. Denn nahezu jedes Wirtschaftsunternehmen ist für seinen Geschäftsbetrieb auf Energie angewiesen. Dabei basierte die Energieversorgung der deutschen Wirtschaft bis zum Beginn des Krieges in der Ukraine maßgeblich auf der Lieferung von preisgünstigem russischem Erdgas. Nachdem diese Energieversorgungsquelle weggefallen ist, stiegen die Preise für eine Ersatzbeschaffung von Erdgas zeitweise um mehr als das Zehnfache.
Typische Streitfragen
In Abhängigkeit davon, welche grundlegenden Lösungen die Politik entwickelt bzw. wie konsequent diese dann tatsächlich in der Praxis umgesetzt werden, könnte diese Preisentwicklung entlang der gesamten Versorgungskette durchschlagen, von den großen Gaseinkäufern zu den Stadtwerken und von diesen zu Industrieunternehmen und auch der allgemeinen Bevölkerung.
Auf jeder Ebene der beschriebenen Versorgungskette besteht jeweils ein bilaterales Vertragsverhältnis, bei dem sich die Frage stellen kann, ob derartige Preissteigerungen weiterbelastet werden können, ob sie zur Kündigung des Vertragsverhältnisses berechtigen oder zum Beispiel bei einem langfristigen Vertrag trotz vereinbarter Preise ein Anspruch auf Vertragsanpassung besteht, um nur einige typische Streitfragen in solchen Konstellationen zu nennen.
Ähnlich wie bei dem vorstehend erwähnten Urteil des Bundesgerichtshofs zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Gewerbemietverträge kommt es auch hier immer auf den konkreten Einzelfall an. Maßgeblich ist, was die Vertragsparteien in ihrem Vertrag konkret geregelt haben, was bei den Vertragsverhandlungen seinerzeit besprochen wurde und unter welchen sonstigen Umständen der Vertrag zustande gekommen ist. Nicht selten findet sich zum Beispiel in Verträgen eine konkrete Regelung für bestimmte schwerwiegende Ereignisse wie Krieg und Naturgewalten. Dabei stellt sich dann häufig die Streitfrage, ob die Vertragsparteien bei Vertragsschluss diese konkrete Regelung als abschließendes Regelungskonzept gewollt haben, das den Rückgriff auf gesetzliche Regelungen außerhalb des Vertrages ausschließen sollte, oder lediglich eine nicht abschließende Regelung gewollt war, die mithin Raum für die zusätzliche Anwendung gesetzlicher Regelungen lassen sollte.
Gerichtsverfahren können langwierig sein, insbesondere, wenn es für die Parteien um viel geht. Auf den ersten Blick könnte man daher geneigt sein zu fragen, was nutzt mir die langwierige Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung meiner Rechtsposition, wenn ich auf Grund der etwaig während des anstehenden Winters drohenden akuten Auswirkungen der Energiekrise auf eine schnelle Lösung angewiesen bin? Das Grundgesetz garantiert wirkungsvollen Rechtsschutz durch die Gerichte. Wenn eine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache so lange brauchen würde, dass sie praktisch zu spät käme, gibt es Möglichkeiten, wirkungsvollen Rechtsschutz im Wege einer einstweiligen gerichtlichen Entscheidung zu erlangen, die zumindest eine vorläufige Sicherung bestimmter Rechtspositionen sehr schnell herbeiführen kann – praktisch innerhalb weniger Tage bzw. sogar innerhalb weniger Stunden.
In der Rechtsprechung anerkannt ist zum Beispiel, dass die Existenzgefährdung einer Partei die erforderliche Dringlichkeit für eine solche einstweilige Entscheidung begründen kann. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass eine solche Existenzgefährdung bei erheblich steigenden Energiepreisen und einer etwaigen Energieknappheit durchaus eintreten kann und damit die Möglichkeit schneller gerichtlicher Hilfe eröffnet.
Es liegen bereits erste Gerichtsentscheidungen vor, die sich mit genau diesen Fragen im Zusammenhang mit den gestiegenen Gaspreisen befassen. So entschied das Landgericht Frankfurt a. M. in einem beachtenswerten jüngst veröffentlichten Urteil vom 29. August 2022 (Az.: 3-03 O 42/22), dass trotz erheblich gestiegener Preise ein Anspruch auf Fortsetzung von Gaslieferungen zu den bisherigen Konditionen bestehen kann, der im Fall der drohenden Existenzgefährdung des zu beliefernden Unternehmens auch im Wege einstweiligen Rechtsschutzes durchgesetzt werden kann.
Das Urteil des Landgerichts stellt treffend eine Abwägung an, welche Folgen sich für die jeweilige Partei ergeben würden. Dabei spielten ausweislich der Urteilsgründe die Versorgungssicherheit und die schweren Folgen für den dortigen Antragsteller eine wesentliche Rolle. Das Landgericht führt weiter aus, dass im Zweifel das Interesse des Antragstellers überwiege, seinen Anspruch bereits im Wege einstweiligen Rechtsschutzes geltend zu machen, wenn die Rechtslage zu seinen Gunsten streitet.
Es besteht also durchaus die Möglichkeit, schnell gerichtliche Hilfe und damit wirkungsvollen Rechtsschutz zu erlangen, wenn sich im Zuge der Energiekrise eine existenzgefährdende Situation für das eigene Unternehmen ergibt. Das Urteil des Landgerichts Frankfurt a. M. hat insofern grundlegende Bedeutung für ähnliche Fälle, in denen Unternehmen von steigenden Energiekosten existenziell betroffen sind.
Relevante Wetter-Daten
Gegenüber den Höchstständen der Weltmarktpreise für Erdgas aus August 2022 sind die Preise zwischenzeitlich erfreulicherweise wieder etwas rückläufig, obgleich immer noch weit über Vorjahresniveau. Damit ist die Energiekrise noch nicht vorbei. Denn die rückläufigen Preise haben ihre Ursache unter anderem in den bislang für die Jahreszeit unerwartet milden Temperaturen und den hohen Füllständen der Gasspeicher. Auch das Wetter ist jedoch eine unvorhersehbare Naturgewalt, von der man sich ungern abhängig macht. Gelingt keine rechtzeitige politische Lösung bzw. werden die schon gegebenen Möglichkeiten des Energiesicherungsgesetzes in der Praxis nicht konsequent umgesetzt, steht zu befürchten, dass im Laufe des Winters die Wetterdaten ähnlich relevant werden könnten, wie bis vor kurzem die Corona-Daten.
*) Daniel Schnabl ist Rechtsanwalt und Partner für Dispute Resolution im Frankfurter Büro von Freshfields Bruckhaus Deringer.