Kriselnde Boeing blitzt mit Tarifangebot bei Gewerkschaft ab
Boeing ringt nach Milliardenverlust um die Zukunft
CEO Ortberg will „kaputte" Unternehmenskultur reparieren
xaw New York
Der lähmende Streik bei der kriselnden Boeing setzt sich entgegen der Hoffnung von Verhandlungsführern fort. So haben die Mitglieder der größten im Konzern aktiven Gewerkschaft IAM (International Association of Machinists and Aerospace Workers) auch ein verbessertes Tarifangebot des unter massivem Liquiditätsdruck stehenden US-Flugzeugbauers ausgeschlagen. Bei einer Abstimmung am Mittwoch votierten 64% gegen einen am Wochenende angebahnten Deal, der Lohnerhöhungen von 35% über vier Jahre vorgesehen hätte. Die Produktion in den Werken im pazifischen Nordwesten der Vereinigten Staaten, in denen Boeing die wichtigen Modellreihen 737, 767 und 777 fertigt, steht damit weiterhin still.
Gewaltiger Cash Burn
Im Rahmen der Zahlenvorlage zum dritten Quartal warnte der Konzern noch am Mittwochvormittag davor, dass der Cash-flow auch im kommenden Jahr negativ ausfallen werde. In den ersten neun Monaten 2024 hat der Luftfahrtriese bereits 10 Mrd. Dollar an liquiden Mittel verbrannt. Die Reserven sind auf 10,5 Mrd. Dollar zusammengeschmolzen, bis zum 1. Februar 2026 werden Kredite von Boeing im Volumen von 11,5 Mrd. Dollar fällig.
Der seit August amtierende CEO Kelly Ortberg rief indes einen Umbruch aus, durch den er die „kaputte“ Unternehmenskultur reparieren und „ernsthafte Performance-Fehltritte“ abstellen will. Beides hätte zum Schuldenberg und der Erosion des Kundenvertrauens bei dem Konzern beigetragen. Bis Boeing beginnen könne, erstmals seit 2009 ein neues Modell zu bauen, habe der Flugzeugbauer noch viel Arbeit vor sich. Im dritten Quartal musste Boeing gegenüber dem Vorjahr einen Umsatzrückgang um 8% auf 17,84 Mrd. Dollar hinnehmen und wie in einer Gewinnwarnung von Anfang Oktober angekündigt einen Nettoverlust von 6,17 Mrd. Dollar bzw. 9,97 Dollar pro Aktie sowie einen negativen operativen Cashflow von 1,3 Mrd. Dollar verkraften.
Konzern prüft Verkauf von Einheiten
Ortberg, der den Konzern gesundschrumpfen will, durchkämmt die Bilanz nach zusätzlichen Liquiditätsquellen. So prüft der US-Flugzeugbauer den Verkauf von Assets, um sich Cash zu beschaffen und zugleich Unternehmenseinheiten mit schwacher Performance loszuwerden.
Zuletzt hat Boeing laut Insidern bereits einen Deal zur Veräußerung einer Tochter geschlossen, die Observationssysteme für das US-Militär produziert. Allerdings hat der Konzern noch mehrere andere problembeladene Aufträge aus Regierungsprogrammen am Hals und ist bisher daran gescheitert, ein mit Lockheed Martin betriebenes Raketen-Joint-Venture loszuwerden.
Frische Liquidität dringend benötigt
In der vergangenen Woche verkündete der Flugzeugbauer, sich eine Kreditlinie über 10 Mrd. Dollar gesichert zu haben, um Liquiditätslöcher zu stopfen. Zusätzlich will er über neue Aktien und Kredite bis zu 25 Mrd. Dollar aufnehmen. Zuvor hatte S&P Global davor gewarnt, dass Boeing frische Liquidität benötige, um nicht in den Ramschbereich abzurutschen.
Der Erhalt des Investment-Grade-Ratings gilt als entscheidend, um die Finanzierungskosten des Konzerns im Rahmen zu halten. Allerdings deuten sowohl die Notwendigkeit temporärer Finanzierungen als auch vage Formulierungen in bei der US-Börsenaufsicht SEC eingereichten Dokumenten laut Analysten darauf hin, dass die beteiligten Banken bei der Vermarktung neuer Aktien und Kredite mit erheblichen Schwierigkeiten rechnen.
Lähmender Streik
Der erneute Rückschlag bei den Tarifverhandlungen verschärft die Krise nun. Das vorherige Angebot des Konzerns, das Lohnerhöhungen um 25% vorsah, hatten trotz Fürsprache der Gewerkschaftsführung 95% der Arbeitnehmer abgelehnt.
Seit Beginn des Ausstands am 13. September verbrennt der Flugzeugbauer nach Schätzungen von S&P Global pro Monat zusätzlich rund 1 Mrd. Dollar Cash. Die angespannte Lage zwingt Boeing zu Entlassungen: Ortberg will 17.000 Stellen streichen, was 10% der gesamten Belegschaft entspricht. Dabei benötigt der Konzern eigentlich mehr Kapazität, um die Produktion hochfahren zu können. Bei den Auslieferungen der Cashcow 737 Max ist Boeing bereits deutlich hinter die gesetzten Zielmarken zurückgefallen, nachdem US-Regulatoren die Produktion deckelten. Hintergrund ist ein Zwischenfall zu Jahresbeginn, bei dem eine Maschine nach dem Start ein Kabinenteil verlor.
Wegen des Streiks der nahezu 33.000 Mitarbeiter, die größtenteils an wichtigen Produktionsstätten im pazifischen Nordwesten der Vereinigten Staaten tätig sind, hat Boeing auch die Erstauslieferung des neuen Langstreckenjets 777X verschoben. Die Passagiervariante soll erst 2026 kommen, mehr als fünf Jahre später als ursprünglich geplant. Die Frachtvariante soll 2028 folgen. Boeing hatte die Testflüge Ende August erneut unterbrochen, nachdem ein struktureller Mangel an einem Bauteil gefunden wurde, mit dem das Triebwerk an der Tragfläche befestigt ist.
Effekte im Zulieferernetz
Der Ausstand wirft auch Wellen im Zulieferernetzwerk von Boeing. Am Freitag kündigte die kriselnde Spirit Aerosystems, die das beim schicksalshaften 737-Max-Flug zu Jahresbeginn herausgefallene Kabinenteil verbaut hatte, die Beurlaubung von 700 Mitarbeitern an. Boeing will die vor fast 20 Jahren ausgelagerte Spirit nach Ankündigung aus dem Juli für 37,25 Dollar je Aktie übernehmen, wodurch das Unternehmen mit rund 4,7 Mrd. Dollar bewertet wird. Das entspricht nach Angaben Spirits einem Aufschlag von 30% auf ihren Aktienkurs vom 29. Februar, dem Tag, bevor die beiden Unternehmen Übernahmegespräche bestätigten. Inklusive der Schulden Spirits belaufe sich der Transaktionswert auf ungefähr 8,3 Mrd. Dollar, wie Boeing erklärte.
Seit dem Wochenende hatte sich Hoffnung breit gemacht, dass der Konzern akute Engpässe bald überwunden haben könnte. Diese sind nun vorerst erloschen. Denn die vorläufige Vereinbarung mit IAM ließ einen wichtigen Punkt aus: Die Wiederherstellung von Pensionsleistungen, die der Konzern in einem 2014 geschlossenen Tarifvertrag für neue Mitarbeiter gestrichen hatte. Die IAM-Gewerkschaftsführung warnte ihre Mitglieder davor, dass die Forderung nur schwierig zu erfüllen sei. Boeing erklärte sich lediglich bereit, Zuzahlungen in sogenannte 401k-Sparpläne zu erhöhen.
Lange undenkbares Szenario gewinnt Traktion
Selbst wenn es bei einem nachgebesserten Angebot zu einer Einigung kommt, könnte es Wochen dauern, bis die Produktion im regulären Rhythmus läuft. Bei Branchenkennern breitet sich deshalb eine lange Zeit als haltlos erscheinende Sorge aus: Dass Boeing auf eine Aufspaltung oder sogar eine Pleite zusteuern könnte.