Sven Kromer

„Da gibt es echte Extremfälle“

Der Berater Sven Kromer von Accenture Strategy plädiert für differenzierte Modelle, um die hohen Retourenquoten der Online-Modehändler einzudämmen. Eine einheitliche Gebühr sei als Steuerungsinstrument ungeeignet.

„Da gibt es echte Extremfälle“

Von Helmut Kipp, Frankfurt

Die Onlineverkäufer von Bekleidung und Schuhen kämpfen traditionell mit hohen Retourenquoten. Rücktransport und Aufarbeitung der Retouren für den Wiederverkauf verursachen enorme Kosten und belasten darüber hinaus die Umwelt. Zuletzt sind die Rücksendungen im Modesektor sogar noch gestiegen. Ging man bisher davon aus, dass in Deutschland Kunden etwa jede zweite Bestellung an den Händler zurückgeben, seien es inzwischen etwa 60% und teilweise sogar über 70%, sagt der Berater Sven Kromer.

Ein wichtiger Treiber sei, dass Retouren für Kunden auch heute noch meist kostenfrei seien. Mehr als 90% der Unternehmen in Deutschland böten kostenlose Rücksendungen an. Im Vereinigten Königreich seien es 75%, in den USA 56%, in China nur 25%, sagt der Managing Director von Accenture Strategy im Bereich Retail Supply Chain.

Alles-Retournierer

Den hohen Anteil in Deutschland führt Kromer auf historische Gründe zurück. Bis 2014 seien Händler verpflichtet gewesen, Retourenkosten zu übernehmen. Dabei sei es nach Wegfall dieser Vorschrift geblieben. Denn Händler scheuten das Risiko, dass Kunden durch eine Gebühr vom Kauf abgehalten werden.

Inzwischen ändert sich die Situation allerdings. Denn einige Unternehmen kassieren ein Entgelt für Retouren. Die Modekette Zara verlangt 1,95 Euro pro Paket, der japanische Bekleidungshändler Uniqlo 2,95 Euro. Kromer hält aber nichts von solchen Pauschalgebühren. Er plädiert für differenzierte Modelle, die nach Produkt- und Kundensegmenten unterscheiden, und zwar sowohl für die Auslieferung als auch für Rücksendungen.

Der Berater unterteilt drei Gruppen von Retouren. Notorische Alles-Retournierer bestellen ohne Kaufabsicht. Dazu gehören Influencer, die georderte Ware anziehen, um sie in Social-Media-Kanälen wie Instagram zur Schau zu stellen, und Testträger, die Ware kurze Zeit tragen und dann zurücksenden. Typische Zu-viel-Besteller wollen schon etwas kaufen, ordern aber mehrere Größen und Farben – ein im Modesektor gängiges Verhalten. Dritte Kategorie sind die ungeplanten Rücksendungen, etwa weil bestellte Ware nicht passt.

„Diese Gruppen muss man differenziert behandeln“, fordert Kromer. Die dafür notwendigen Bestell- und Retourendaten seien vorhanden. Damit ließen sich Alles-Retournierer und Testträger herausfiltern: „Da gibt es echte Extremfälle.“ Die Daten würden aber nicht ausreichend genutzt.

„Eine einheitliche Gebühr ist als Steuerungsinstrument zu pauschal und ungeeignet zur Senkung der Retourenquote. Das ist eine kurzfristige Maßnahme, um Kosten weiterzugeben“, stellt der Berater klar. „Es ist sinnvoll, attraktive Kunden anders zu behandeln als unattraktive. In der Luftfahrt gibt es längst sehr viele unterschiedliche Preismodelle. Aber im Modehandel tut man sich schwer damit“, sagt Kromer und fragt: „Warum muss E-Commerce das Gleiche kosten?“ Stattdessen sollten Kunden, die zum Normalpreis kaufen und vereinzelt Ware zurückgeben, anders behandelt werden als Leute, die regelmäßig ermäßigte Artikel retournieren.

Aus der Digitalstudie 2022 der Postbank geht hervor, dass 27% der Onlinekäufer Ware bestellen, von der sie wissen, dass sie diese zurückschicken werden, beispielsweise Kleidung in verschiedenen Größen. Lediglich 10% der Befragten seien bereit, aus ökologischen Gründen die eigenen Onlinekäufe zurückzufahren oder ganz darauf zu verzichten. Allerdings unterstützten mehr als 80% der Deutschen ein Verbot der Retourenvernichtung.

Quoten sind „absurd“

Dass die Retourenquote in Deutschland höher ist als in anderen europäischen Ländern, ist für Kromer auch eine Mentalitätsfrage. Deutsche Kunden seien kostenlose Rücksendungen gewohnt: „Sie machen sich wenig Gedanken, weil sie ja kostenfrei retournieren können.“ Quoten von 60% seien aber „absurd unter Kosten- und Umweltaspekten“, räumt Kromer ein.

Den jüngsten Anstieg bringt der Berater mit dem Bestellboom infolge der Pandemie in Verbindung. Neue Kundengruppen seien hinzugekommen, die den Interneteinkauf erst einmal testen wollten. Zudem häuften sich verspätete Zustellungen, eine Folge der Engpässe in den Lieferketten. Verzögerte Auslieferungen führten zu Unzufriedenheit und damit zu Rücksendungen. Die stark steigenden Energie- und Lebensmittelpreise könnten ebenfalls eine Rolle spielen, da sie die Kaufkraft der Verbraucher auch kurzfristig schmälern.

Viele Käufer würden eine Kostenbeteiligung durchaus mittragen, geht aus einem Report der IT-Plattform Trusted Returns hervor. Demnach ist knapp die Hälfte der Befragten (44%) bereit, mindestens einen Teil der Kosten zu übernehmen. Junge Erwachsene von 18 bis 24 Jahren stächen hier mit einer Bereitschaft von 51% hervor. Trusted Returns verweist auf den Bundesverband E-Commerce und Versandhandel (BEVH), der prognostiziere, dass Verbraucher künftig an den Retouren flächendeckend beteiligt würden.

Kromer hingegen bezweifelt, dass ein Ende der kostenlosen Retouren bevorsteht. „Es wird so sein, dass noch einige Händler nachziehen, um die steigenden Logistikkosten einzudämmen.“ Aber der Umgang mit Retouren sei nach wie vor ein wesentliches Entscheidungskriterium für Kunden und damit ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. „Die großen Pure Player wie Zalando, Otto, Amazon und About You setzen die Maßstäbe. Sie haben angekündigt, keine pauschalen Retourenkosten zu erheben.“

Hinzu komme, dass große Onlinehändler häufig als Marktplatz fungieren, also auch Fremdmarken verkaufen. Es sei kaum vorstellbar, dass der Marktplatz kostenfreie Retouren anbietet, während die Marke im eigenen Onlineshop Rücksendungen kostenpflichtig macht, gibt Kromer zu bedenken: „Das kann man dem Kunden kaum erklären.“

Bei Erfassung, Analyse und Integration von Kundendaten in Produktprozess und Logistik stehe die Modebranche am Anfang. Für sinnvoll hält Kromer den schnelleren Aufbau von Retourenportalen. Das erleichtere es, Gründe für die Rücksendung sauber zu erfassen, die Daten in die Produktentwicklung einfließen zu lassen und eventuell sogar mit Lieferanten auszutauschen: „Im Automobilsektor ist das Standard, im Modesektor aber die Ausnahme.“

Über datengestützte Modelle und Analysen könnten Online-Modehändler ihre Erträge steigern, ist Kromer überzeugt. „Retourendaten mit Bestell- und Kaufverhalten verknüpfen und deutlich segmentierter die Kosten weiter belasten – das ist ein starker Hebel für die Profitabilität in Zeiten hoher Transportkosten“, sagt er. Ein weiterer Hebel seien neue Technologien, etwa Apps für die individuelle virtuelle Anprobe. Statt Größen digital an Standardmodellen auszuprobieren, erfolgt dann die Anprobe durch einen Avatar des Kunden. „Das ist heute noch Zukunftsmusik, wird aber kommen“, ist Kromer überzeugt.

Kehrseite der Sonderaktionen

Zum Teil trügen Modeverkäufer selbst zu vermehrten Retouren bei, beobachtet Kromer. So verführten zeitlich begrenzte Sonderangebote dazu, mehrere Größen zu bestellen, um sich den reduzierten Preis zu sichern, bevor die Aktion ausläuft. Auch zu hohe Mindestbestellwerte gäben Anreize zu Fehlverhalten. „Der Kunde bestellt dann eben das Mindestvolumen und schickt die Ware zurück, die er gar nicht haben will.“

Die übliche Rücksendefrist von vier Wochen hält Kromer angesichts der Schnelllebigkeit der Branche für lang. Fast Fashion zum Beispiel habe nur einen Verkaufszyklus von drei, vier Monaten. Bei solchen Produkten sei eine Rücksendefrist von einer Woche oder zehn Tagen angemessener, damit der Onlinehändler das Produkt schneller in den Wiederverkauf geben könne. Auch sei hier eine Teilung in kostenlose und -pflichtige Retourenfrist denkbar.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.