Die Größe macht Hoffnung
bl/wü Mailand/Paris
Renault hat es mit seiner Allianz vorgemacht, Opel-Mutter PSA und Fiat Chrysler (FCA) sind dem Beispiel gefolgt. Die Größe dürfte angesichts der großen Herausforderungen, vor denen die Automobilindustrie wegen immer strengerer Umweltauflagen und einer sinkenden Nachfrage gerade in reifen Märkten steht, eine immer wichtigere Rolle spielen. Gemeinsam sind wir stark, lautet das Credo der einstigen Konkurrenten. Während PSA dank Konzernchef Carlos Tavares äußerst rentabel ist, bringt FCA sein Amerikageschäft als Mitgift ein. Durch die Marken Jeep, Chrysler, Dodge und Ram kann PSA endlich auch Fuß in Nordamerika fassen.
Die französische Automobilindustrie hofft nun, dass ihr die Fusion der beiden Gruppen zu neuem Schwung verhilft, nachdem jahrzehntelang Deutschland als die wichtigste Referenz der Branche galt. Bei diesem neuen Elan soll die Elektrifizierung eine wichtige Rolle spielen. Französische Politiker träumen davon, dass sie endlich zu einer Umkehr der Negativtendenz führen wird, die die heimische Automobilindustrie seit rund 20 Jahren belastet und zu einem starken Einbruch der Produktion geführt hat. Wurden 2004 noch 3,7 Millionen Autos „Made in France“ in Frankreich hergestellt, waren es im vergangenen, von der Covid-Pandemie geprägten Jahr gerade mal noch 1,3 Millionen. Selbst wenn die Automobilproduktion in Frankreich nun wieder auf 1,8 bis 1,9 Millionen Fahrzeuge wie vor der Coronakrise erhofft steigen würde, betrüge sie nur knapp die Hälfte von einst.
Ein Grund für diesen Niedergang sei die immer größere Komplexität von Kleinwagen aus dem B-Segment wie dem Clio oder dem Peugeot 208, meint Branchenexperte Bernard Jullien von der Universität Bordeaux. Um sie zu fertigen, sei mehr Personal nötig, weshalb die Autobauer die Produktion in im Vergleich zu Frankreich von Löhnen und Sozialabgaben her günstigere Länder wie Spanien, die Türkei, Marokko und die Slowakei verlegt hätten. Oft seien ihnen die Zulieferer gefolgt. In der Folge hat die Branche laut einer Studie der Metallindustrie zwischen 2008 und 2019 fast 76000 von insgesamt 270000 Arbeitsplätzen verloren.
Ob Elektrofahrzeuge zu einer Trendumkehr führen können, ist jedoch alles andere als sicher. So hängen zum einen rund 50000 Arbeitsplätze in Frankreich von Verbrennungsmotoren ab, zum anderen sind für die Herstellung von Elektrofahrzeugen weniger Arbeitskräfte nötig, da die für ihren Bau notwendige Zeit nach Angaben von Hervé Guyot von der Unternehmensberatung Oliver Wyman 30% bis 35% unter der für ein klassisches Auto liegt.
Batterien werden nach Ansicht von Experten zu einem strukturierenden Element für die Lokalisierung der Automobilproduktion werden. Stellantis will sich bei der Elektrifizierung auf fünf Batteriefabriken stützen. So plant das Joint Venture der Gruppe und der Total-Tochter Saft fünf Batteriefabriken in Europa und den USA, davon je eine in Deutschland, im nordfranzösischen Douvrai und im italienischen Termoli. Stellantis will bis 2025 mehr als 30 Mrd. Euro in die Elektrifizierungsstrategie investieren.
Mit den neuen Batteriefabriken trete das Buhlen einzelner Standorte um die Produktion einzelner Modelle etwas in den Hintergrund, meint Bernard Jullien von der Universität Bordeaux. Innerhalb der Stellantis-Gruppe könnten Standortfragen so für einige Spannungen sorgen, denn gerade auf italienischer Seite ist der Argwohn gegenüber dem französischen Fusionspartner groß. Zumal sich bereits jetzt eine deutliche Reduzierung der Bauplattformen abzeichnet, da Stellantis-Chef Carlos Tavares für die 14 Marken des Konzerns vier elektrische Bauplattformen verschiedener Größenklassen einsetzen will. Derzeit kommt der fusionierte Konzern auf 23 Bauplattformen.
Neue Plattformen
Die erste neue Plattform dürfte unter dem Namen Stella Medium Ende 2023/Anfang 2024 an den Start gehen. Dort soll auch der künftige SUV Peugeot 3008 III entstehen, der in Sochaux in Frankreich gebaut wird. Nach dem gleichen Schema sollen schließlich Stella Small, Stella Large und Stella Frame folgen. Stella Large dürfte Elemente einer Plattform von Alfa Romeo übernehmen, die für Pick-ups bestimmte Plattform Stella Frame das Fahrgestell aktueller Modelle von Ram.
So groß die Freude war, dass Stellantis den Bau einer Batteriefabrik im süditalienischen Termoli bekanntgegeben hat, so groß sind die Sorgen um die Zukunft der Autoindustrie im Land. Der Großteil der Zulieferer des Landes hängt am Bau von Komponenten für klassische Antriebe. Paolo Scudieri, Präsident des Automobilverbands Anfia, spricht von einem drohenden „ökonomischen Tsunami“ und fürchtet den Verlust von bis zu 70000 Arbeitsplätzen durch die Transformation der Branche. Italiens Autoindustrie beschäftigt derzeit 278000 Mitarbeiter und kommt mit 5500 Unternehmen auf einen Umsatz von 106 Mrd. Euro oder 6,2% des Bruttoinlandsprodukts.
Besonders dramatisch ist die Lage in der einstigen Autometropole Turin, wo Stellantis in zwei Autowerken nur noch 14000 Mitarbeiter hat, die aber seit Jahren in Kurzarbeit sind. Sie stellen etwa die Elektroversion des Fiat 500 her. Nun sollen weitere 800 Stellen wegfallen. Dazu kommen Werksschließungen bei Zulieferern wie GKN und Timken. Auch bei Stellantis fürchten Gewerkschaften, dass bis zu zwei der sieben Autofabriken im Land, die alle unterausgelastet sind, dichtgemacht werden könnten. Tavares hat das jedoch bisher ausgeschlossen. Für FCA war der Zusammenschluss mit PSA zu Stellantis die vermutlich letzte Chance: Denn die Modellpalette ist veraltet und bei alternativen Antrieben hinkten die Italiener weit hinterher: Erst 2020 begann die Produktion der Elektroversion des Fiat 500.
Gut geht es Italiens Autobranche im sogenannten Motor Valley rund um Bologna, das auf den Motorsport ausgerichtet ist. Hier produzieren etwa auch die Audi-Tochter Lamborghini und Ferrari. Die chinesische FAW will dort demnächst Super-Sportwagen fertigen. Ferrari ist der letzte unabhängige Autohersteller Italiens und vermeldet traumhafte Renditen und Verkaufszahlen.
Italiens Regierung greift der Branche massiv unter die Arme: Mit Verschrottungsprämien, Staatshilfen für den Bau der Stellantis-Batteriefabrik und 1,2 Mrd. Euro für die Entwicklung alternativer Antriebe. Fiat Chrysler hatte kurz vor dem Zusammenschluss mit PSA außerdem einen sehr attraktiven Kredit über 6,3 Mrd. Euro erhalten. Die Unternehmensberatung McKinsey beziffert die für die Begleitung der ökologischen Wende und die Elektrifizierung der Branche in Frankreich notwendigen Investitionen auf 17,5 Mrd. Euro.
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