Werner Volz

„Es gibt einen enormen Nachholbedarf“

Werner Volz, der Finanzvorstand von Vitesco, erklärt, warum die Nachfrage nach Produkten des Zulieferers derzeit so hoch ist und die Autoproduktion in der Welt aus seiner Sicht nun immer weiter wächst.

„Es gibt einen enormen Nachholbedarf“

Joachim Herr

Herr Volz, die Autoindustrie leidet heftig am Halbleitermangel. Wie viel Geschäft entgeht Vitesco deshalb in diesem Jahr?

Das macht für uns schon einen wesentlichen Millionenbetrag an Umsatz in diesem Jahr aus. Der Chipengpass hat die guten Perspektiven für die ganze Branche massiv eingebremst. Anfang dieses Jahres sind wir von einem deutlich zweistelligen Wachstum für den globalen Automarkt ausgegangen. Jetzt ist nur noch mit einer einstelligen Rate zu rechnen.

Wie lange dauert diese Knappheit noch nach Ihrer Einschätzung?

Es zeichnen sich noch zwei bis drei schwierige Monate ab. Vielleicht gibt es zum Ende des vierten Quartals oder Anfang 2022 eine leichte Entspannung, weil die Chiphersteller ihre Kapazitäten ausbauen. Das heißt aber nicht, dass wir dann den Normalzustand erreicht haben.

Wie versuchen Sie diese schwierige Lage zu bewältigen?

Indem wir uns eng mit unseren Kunden und Lieferanten abstimmen, zum Teil in Dreiecksgesprächen. Wir haben mit jedem Kunden eine Task Force etabliert, die sich wöchentlich, meistens sogar täglich mit einer Feinabstimmung auseinandersetzt, um einen Produktionsstillstand weitgehend zu vermeiden.

Und außer enger Abstimmung?

Wir greifen vielfach auf Halbleiter von Brokern zurück, um unsere Lieferkette aufrechtzuerhalten. Diese Chips sind sehr teuer. Bisher ist das gut gelungen, aber langsam trocknen auch diese Beschaffungskanäle aus.

Geben Sie die höheren Preise an Ihre Kunden weiter?  

Ja, die Prämien, die wir den Brokern zahlen, geben wir so weit wie möglich weiter. Das gelingt jedoch nicht immer.

Die Nachfrage nach Ihren Produkten ist derzeit sehr hoch. Wie lange wird diese Phase dauern?

Es gibt einen enormen Nachholbedarf, vor allem in den riesigen Märkten wie China und Indien. Auch in den USA ist das abzusehen. Im vergangenen Jahr wurden in der Welt 74 Millionen Fahrzeuge produziert. Für dieses Jahr wurden 86 oder 87 Millionen prognostiziert. Unter anderem wegen des Chipmangels werden es aber wohl nur 80 oder 81 Millionen.

Irgendwann ist dieser Nachholbedarf aber doch gedeckt.

Der Bedarf an Mobilität ist ungebrochen. Wir erwarten, dass sich der Markt auf ein normales Niveau von 90 Millionen Fahrzeugen im Jahr einpendeln wird und dann moderat wachsen wird. Hinzu kommt die enorm steigende Nachfrage nach Elektroautos.

Also ein Wachstum ohne Ende?

Wir erwarten, dass die Automobilproduktion langfristig weiter wächst. Als Anbieter von Elektromobilität haben wir eine tolle Perspektive.

Vitesco hat schon relativ früh, Anfang 2019, die Weichen in Richtung Elektromobilität gestellt. Wie kam es dazu?

Andreas Wolf als Vorstandsvorsitzender und ich hatten Ende 2018 unsere neuen Aufgaben übernommen. Wir mussten eine mutige Vorwärtsstrategie entwickeln, um Vitesco Technologies auch für die Börse attraktiv zu machen. Wir haben den Markt analysiert. Hinzu kam eine hohe Dynamik der Gesetzgebung. Es war also abzusehen, wenn auch noch nicht hundertprozentig, dass der Trend in Richtung Elektrifizierung geht.

Der Wettbewerb im E-Mobilität-Segment um die großen Aufträge der Autohersteller ist hart. Schafft es Vitesco, auch mit Preiszugeständnissen stärker als der Markt zu wachsen?

Es herrscht ein sehr dynamischer Wettbewerb, in dem es auf Technik, Innovation und den Preis ankommt. Die meisten unserer Elektrifizierungsprodukte sind schon in der vierten Generation. Damit haben wir uns großes Vertrauen der Kunden erworben. Wir haben den Wettbewerbsvorteil, Produkte kleiner und leichter zu machen und gleichzeitig die Leistung zu verstärken bei einer enormen Kostenreduzierung.

Sie profitieren also von Ihrem frühen Einstieg?

Ja, der Zeitvorteil macht sich be­merkbar. Wir starteten auch nicht bei null. Wir haben noch als Continental Powertrain schon seit mehr als zehn Jahren in die Elektrifizierung investiert und vor drei Jahren mächtig Gas gegeben und alle Produktbereiche ertüchtigt.

Lehnen Sie Aufträge ab, wenn der Preis nicht stimmt?

Angesichts der enormen Nachfrage wägen wir Anfragen genau ab. Es gibt nicht viele Zulieferer mit einem so breiten Portfolio und der Systemkompetenz, wie Vitesco Technologies sie hat. Und die Kunden schätzen Zulieferer mit System-Know-how.

Zeichnen sich weitere Großaufträge für die E-Mobilität ab?

Der Markt ist weltweit in Bewegung. Die Autohersteller befassen sich aktuell mit großen Plattformen. Nach den Aussagen von US-Präsident Joe Biden zur Umweltpolitik kommt jetzt auch noch der amerikanische Markt hinzu.

Was heißt das für Vitesco?

Wir erwarten in den nächsten Monaten einiges an Neugeschäft.

Ende 2020 hatte Vitesco einen Auftragsbestand für Elektrifizierungsprodukte von 13 Mrd. Euro. Und aktuell?

Im ersten Halbjahr kam hier ein Auftragseingang von rund 1,8 Mrd. Euro hinzu.

Geld verdient Vitesco mit den Produkten für die E-Mobilität aber noch nicht.

Ja, die Verluste sind noch hoch, aber nicht aus dem laufenden Geschäft, sondern hauptsächlich aufgrund der hohen Vorleistungen. Einzelne Aufträge sind allerdings schon profitabel und vergleichbar mit anderen Produktbereichen.

Wie wollen Sie 2024 die Gewinnzone auf Basis des bereinigten Ebit im Geschäft mit Elektronikkomponenten erreichen? Geht das vor allem über Skaleneffekte?

Ja, das ist der große Hebel. Außerdem senken wir die Kosten, unter anderem dank der Baukastensysteme für Produkte, deutlich verbesserter Produktionsprozesse und einer effizienteren Entwicklung in einem massiv gewachsenen Bereich. 2024 wollen wir hier Geld verdienen. Wir erwarten, dass der Umsatz in dem Segment mittelfristig auf mehr als 2 Mrd. Euro wachsen wird.

Im vergangenen Jahr erzielte Vi­tes­co in der Geschäftseinheit Electrification Technology einen Um­satz von 406 Mill. Euro. Wie soll es weitergehen?

Bis 2025 peilen wir in dieser Business Unit eine Verfünffachung des Umsatzes an auf, wie gesagt, mehr als 2 Mrd. Euro. Im Jahr 2030 soll sie dann einschließlich des Elektrifizierungsgeschäfts unserer anderen Business Units den größeren Umsatzanteil ausmachen.

Mittelfristig peilt Vitesco ein Umsatzwachstum von 3 bis 5% im Jahr an. Das klingt relativ bescheiden.

Wir sind realistisch. In den nächsten fünf bis sieben Jahren fahren wir das Geschäft mit Produkten für Verbrennungsmotoren gegen null herunter. Das kompensieren wir mit den mehr als 2 Mrd. Euro Umsatz in der Elektrifizierung. Mit dem hier angepeilten deutlich zweistelligen Wachstum gewinnen wir Marktanteile. Und in unserem Stammgeschäft – etwa mit Steuerungstechnik, also Elektronik und Sensorik – sind wir gut im Markt unterwegs. Mit unserer mittelfristigen Umsatzprognose fühlen wir uns sehr komfortabel.

In der erwarteten Branchenkonsolidierung will Vitesco eine aktive Rolle spielen. Wie teuer dürfte eine große Akquisition sein, die sich Vitesco leisten könnte?

Wenn sich die Möglichkeit ergibt und es zu unserem Geschäftsplan und unserer Strategie passt, könnten wir auch eine große Akquisition finanzieren. Wir achten sehr genau auf den M&A-Markt und rechnen hier mit einer hohen Dynamik in den nächsten Jahren.

Die Finanzierung dürfte kein Problem sein: Vitesco hat keine Schulden, hatte Ende 2020 eine Liquidität von rund 660 Mill. Euro und verfügt über eine Kreditlinie von 1 Mrd. Euro.

Das ist unsere Basisfinanzierung, die wollen wir fürs operative Geschäft halten. Auf dieser soliden Ausgangslage aufsetzend könnten wir eine größere Akquisition finanzieren.

Mit einer Kapitalerhöhung?

Nein, daran denken wir in den ersten Schritten nicht. Wir brauchen an der Börse zunächst eine gewisse Zeit der Stabilität. Wir denken da eher an andere Möglichkeiten wie An­leihen.

Hat der Vorstand Ziele für eine Übernahme im Visier?

Nein, konkrete Ziele haben wir derzeit nicht im Blick.

Aber Sie wissen, welche Unternehmen passen würden?

Es gibt Themen, die wir beobachten. Zum einen könnte es darum gehen, das Wachstum in einer Region zu beschleunigen. Zum anderen behalten wir die Technik im Blick, da Technologiesprünge stattfinden könnten. Wir haben ein starkes Technik-Scouting. Technologisch ist Vitesco Technologies sehr solide aufgestellt, aber der Markt ist sehr dynamisch.

Welche Vorteile versprechen Sie sich von der Abspaltung und der Börsennotiz?

Mehr Entscheidungsfreiheit, kürzere Entscheidungswege. Das ist ja alles seit Ende 2018 schon im Fluss. Wir konnten unsere Strategie schnell platzieren und sind autark und schneller unterwegs.

Größter Aktionär von Vitesco mit einem Anteil von 46% wird wie von Conti die Familie Schaeffler sein. Gibt es Möglichkeiten für mehr Kooperationen mit Schaeffler? 

Wir haben schon in der Vergangenheit sehr konstruktiv zusammengearbeitet und werden das tendenziell auch in der Zukunft tun. Mit Schaeffler gibt es eine hohe technische Affinität. Wir sind aber nicht fixiert auf Schaeffler, und Schaeffler ist nicht fixiert auf uns.

Ein bevorzugter Partner ist Schaeffler­ also nicht?

So ist es, wir haben verschiedene Partnerschaften. Mit Schaeffler gibt es einfach Technikthemen, die wir versuchen gemeinsam zu lösen.

Wäre aus Ihrer Sicht auch mittel- und langfristig ein Ankeraktionär gut?

Ja, wir sind sehr froh, auch künftig einen Ankeraktionär zu haben. Das scheint ja auf absehbare Zeit zu bleiben. Das sollte uns Stabilität an der Börse bringen.

Das Interview führte .

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