Lieferdienste

„Gorillas-Übernahme wäre ein Notverkauf“

Bei den superschnellen Lebensmitteldiensten trennt sich die Spreu vom Weizen. Der Berater und Handelsexperte York von Massenbach geht davon aus, dass nur Anbieter überleben werden, die einen der ersten beiden Plätze besetzen.

„Gorillas-Übernahme wäre ein Notverkauf“

Von Helmut Kipp, Frankfurt

Die Turbo-Lebensmittelbringdienste stehen vor einer „brutalen weiteren Konsolidierung“. Davon ist der Berater und Handelsexperte York von Massenbach überzeugt. Überleben würden nur Anbieter, die den ersten oder zweiten Platz besetzen. „Es gibt große Fragezeichen, ob Gorillas das schaffen wird“, sagt der Direktor der Managementberatung Atreus.

Die im Mai 2020 gegründete Gorillas steht offenbar vor einer Übernahme durch den türkischen Konkurrenten Getir (vgl. BZ vom 11. Oktober). Die Gespräche sollen sich in fortgeschrittenem Stadium befinden. „Die Gorillas-Übernahme wäre ein Notverkauf“, stellt von Massenbach im Gespräch mit der Börsen-Zeitung klar. Im Markt sei zu hören, dass ein Investor bereits 60% seines Anteils an dem Start-up abgeschrieben habe.

Gorillas steht massiv unter Druck, weil Gespräche über eine neuerliche Kapitalspritze bisher zu keinem Abschluss kamen. Im Mai gab das Management drastische Stellenstreichungen bekannt, um die Kosten zu senken. Das Ziel ist, möglichst rasch die Verlustzone zu verlassen. Getir verfügt über finanzielle Mittel, nachdem bei einer Finanzierungsrunde im März 768 Mill. Dollar hereinkamen. Damals kam Getir auf eine Bewertung von 11,8 Mrd. Dollar.

Die Bereitschaft von Private-Equity- und Venture-Capital-Investoren, Geld in nicht profitable Scale-up-Geschäftsmodelle zu stecken, sei seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 dramatisch gesunken, erläutert von Massenbach. Die mit den politischen Verwerfungen einhergehenden Inflationssorgen hätten das Konsumentenverhalten stark verändert.

Die Kunden hielten ihr Geld zusammen. Zugleich seien Energie- und Personalkosten der Unternehmen gestiegen. Der Atreus-Direktor erinnert daran, dass die allermeisten Schnelllieferdienste schon zu den Hoch-Zeiten der Branche während der Pandemie mit „unglaublich hohen Burn-Raten“ unterwegs gewesen sein. Das treffe auch auf Gorillas zu. Die Turbodienste, zu denen unter anderem auch der Wettbewerber Flink gehört, hätten sich nur halten können, weil sie es geschafft hätten, in sehr kurzer Zeit dreistellige Millionen-Euro-Beträge einzusammeln.

Was macht Delivery Hero?

Flink sei deutlich besser aufgestellt als Gorillas. Zur Begründung verweist der Berater auf die Kooperation mit Rewe und dem französischen Handelsriesen Carrefour. „Es gewinnt, wer den stärksten Partner hat mit Blick auf Kapital und andere Vorteile. Flink hat Schwergewichte der Old Economy an Bord, die Skaleneffekte ermöglichen und viel Cash haben.“ Zudem konzentriere sich Flink auf Deutschland und Frankreich, während sich Gorillas durch eine viel zu aggressive Internationalisierung, vor allem Richtung USA, verzettelt habe.

Die spannende Frage sei: Was macht Delivery Hero? Der frühere Dax-Konzern spielt nach dem abermaligen Rückzug aus dem deutschen Markt Ende vergangenen Jahres hierzulande noch indirekt über eine Beteiligung an Gorillas mit. Er ist nämlich im vergangenen Herbst für 235 Mill. Dollar im Zuge einer Finanzierungsrunde mit 8% bei dem Start-up eingestiegen.

Die Bedeutung der Lieferzeit

Von Massenbach kann sich vorstellen, dass Delivery Hero ihre Gorillas-Beteiligung aufstockt, solange der Deal mit Getir nicht unterschrieben ist, gibt aber auch zu bedenken, dass der deutsche Markt sehr umkämpft sei und derzeit nicht in die Länderstrategie von Delivery Hero passe.

Delivery Hero konzentriere sich auf Märkte in Schwellenländern und habe das ursprüngliche Deutschlandgeschäft Ende 2018 an den Wettbewerber Takeaway verkauft, so dass kurzfristig hierzulande kein Netzwerkeffekt mit dem Kerngeschäft im Gastrobereich erzielt werden könne. Zudem sei Gorillas-CEO und Gründer Kagan Sümer gebürtiger Istanbuler: „Er ist kulturell natürlich recht nah an Getir.“

Flink hält von Massenbach ebenfalls für einen möglichen Käufer von Gorillas – bei Rückendeckung durch Rewe und Carrefour. „Dann wäre Geld dafür da“, sagt er. Allerdings hat er Zweifel, dass die Spitzenmanager miteinander harmonieren: „Wenn überhaupt, müsste der Gorillas-CEO gehen.“

Ein Überraschungskandidat wäre für ihn die Schwarz-Gruppe mit ihren Standbeinen im Lebensmitteleinzelhandel Lidl und Kaufland: „Die beweisen bei Akquisition immer wieder Mut.“ Durch eine solche Akquisition hätte Lidl Zugriff auf spannende Mitarbeiter mit raren und stark nachgefragten Kompetenzen. Zudem gelange Lidl quasi über Nacht in den Besitz wertvoller Logistik-Mikrostandorte.

Ungeachtet konzeptioneller Her­ausforderungen gibt von Massenbach der superschnellen Auslieferung als „Sonderlösung“ eine Zukunft. Denn die Gruppe der digital affinen Kunden wachse stetig. Den größten Teil des Liefergeschäfts würden aber Anbieter mit zwei oder drei Stunden Lieferzeit an sich ziehen.

In diese Kategorie fallen Player wie die von Oetker übernommene Flaschenpost oder die zur tschechischen Rohlik Group, die noch im Juni eine Finanzierungsrunde über 220 Mill. Euro über die Bühne brachte, gehörende Knuspr. Diese Anbieter könnten die Touren effizienter planen als die Turbodienste: „Je kürzer die Auslieferungszeit, desto weniger optimiert ist die Routenplanung“, sagt von Massenbach. Zudem verfügten die Zwei- oder Drei-Stunden-Dienste über ein breiteres Sortiment, so dass die verkauften Warenkörbe 50 Euro und mehr erreichten statt 20 oder 25 Euro.

Auch Low-Asset-Geschäftskonzepte ohne eigenes Lager, sogenannte Store-Picking-Konzepte, wie sie Bringoo aus Hamburg und vor allem Instacart aus den USA verfolgen, hält von Massenbach für zukunftsträchtig. Für die anderen Anbieter sei die Bewirtschaftung der Verteilzentren ein Kernthema. Derzeit würden die Warenkörbe in der Regel per Hand zusammengestellt. Knuspr verfüge inzwischen über Lager, wo Robotertechnik für das Picken eingesetzt werde. Auch Rewe investiere in diesen Bereich. Der Robotereinsatz steigere die Produktivität um 30%: „Das ist enorm“, sagt von Massenbach.

Vorteilhafte Kombination

Als „clevere Strategie“ bewertet der Berater das Vordringen von Gastrodiensten in die Auslieferung von Lebensmitteln und anderen Fertigwaren. Diese Geschäftsmodelle lägen nah beieinander, etwa mit Blick auf Routenplanung und Steuerung der Rider. Daher bringe die Kombination große Netzwerkeffekte mit sich. Delivery Hero beispielsweise hat ihr angestammtes Geschäft mit Restaurantessen um die Auslieferung von Supermarktartikeln, Quick Commerce genannt, erweitert.

Von Massenbach hält dieses Vorgehen für überzeugend. Delivery Hero könne ihre Expertise in Logistik und Personal, die andere erst noch aufbauen müssten, in das neue Geschäft einfließen lassen. Zudem sei der Konzern, anders als etwa Gorillas, Getir oder Flink, gelistet und könne über die Börse Geld einsammeln. Daher zählt er Delivery Hero zu den Gewinnern. Der Berliner Konzern sei weltweit Nummer 1 und vor allem in Südostasien, der Mena-Region (Nordafrika und Naher Osten) und Südamerika unterwegs. In diesen Ländern gebe es oft vergleichsweise wenig Wettbewerb.

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