Sebastian Biedenkopf

„Homeoffice ist kein Privileg der anderen“

Seit gut eineinhalb Jahren ist die hybride Arbeitswelt nicht mehr nur in technologielastigen Start-ups gelebte Praxis. Auch in großen Konzernen wie Fresenius ist das mobile Arbeiten mit der Corona-Pandemie plötzlich zur Normalität geworden. Führungskräfte stellt das vor völlig neue Herausforderungen, sagt Personalchef Sebastian Biedenkopf.

„Homeoffice ist kein Privileg der anderen“

Karolin Rothbart.

Herr Biedenkopf, bei Fresenius müssen Sie sich um die Belange vieler verschiedener Berufsgruppen kümmern, die sich in der Corona-Pandemie zum Teil auch verändert haben. Manche Menschen wollen auf Homeoffice nicht mehr verzichten, während die anderen gar nicht erst die Möglichkeit dazu haben. Führt das nicht auf Dauer zu Spannungen in der Belegschaft?

Es gibt Experten, die eine solche Entwicklung zum Teil schon wahrnehmen. Mein persönliches Frühwarnsystem sagt mir zwar auch, dass so etwas passieren könnte – im Moment nehme ich das aber noch nicht wahr. Das liegt aber vielleicht auch daran, dass wir leider nach wie vor mit vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern relativ wenig persönlichen Kontakt haben. Es würde mich zumindest nicht wundern, da das Thema Homeoffice momentan sehr große Aufmerksamkeit bekommt. Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht. Die Arbeit von Zuhause aus bringt allen Beteiligten viele Vorteile.

Und was ist mit denen, die nicht beteiligt sind?

Wer nicht die Möglichkeit hat, von zuhause zu arbeiten, darf nicht das Gefühl bekommen, dass Homeoffice ein Privileg der anderen sei. Und ein Privileg ist es auch nicht. Es gibt ja auch Kolleginnen und Kollegen, die lieber eine räumliche Trennung zwischen beruflicher und privater Sphäre haben. Hier ist unsere Aufgabe, allen zu erklären, dass Homeoffice auch im Unternehmensinteresse ist. Das stellt uns, glaube ich, schon vor Herausforderungen. Man stelle sich vor, dass eine größere Zahl an Menschen, die den ganzen Tag an ihrer Arbeitsstelle auf den Beinen stehen, überlegen, bald auch einen Bürojob zu ergreifen. Das führt dann zu Verschiebungen, die es heute schon in anderen Industrien gibt, wie zum Beispiel in der Gastronomie, wo zunehmend Servicekräfte fehlen. Das können wir uns nicht leisten. Daher müssen wir die Möglichkeit, dass sich Mitarbeiter zurückgelassen fühlen könnten, zumindest im Auge haben.

Wie viele Mitarbeiter haben denn bei Fresenius die Möglichkeit, ins Homeoffice zu gehen?

Wir haben hier keine exakten Zahlen. Das hängt auch maßgeblich von den betrieblichen Erfordernissen ab, wobei dezentral von den Verantwortlichen vor Ort entschieden wird, ob und in welchem Rahmen mobiles Arbeiten möglich ist. Wir schätzen, dass etwa 30 % der Jobs, die wir haben, auch mobil erledigt werden können. Für die Gruppe wollen wir jetzt mehr Flexibilität schaffen. Für die überwältigende Mehrheit der Mitarbeiter bei Fresenius ist das im Umkehrschluss aber nicht möglich. Diese 70 % haben einen festen Arbeitsort und eine Arbeitsroutine.

Hier gibt es also keinen Spielraum für Flexibilisierung?

Doch, vielfach gibt es durchaus Möglichkeiten, aber in bestimmten Bereichen geht es nicht. In der Produktion haben wir zum Teil einen Drei-Schicht-Betrieb, in dem die Produktion 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche läuft. Wie wollen Sie da flexibilisieren? Sie können nicht mal eben Schichtsysteme umstellen. Das Gleiche gilt für unsere Pflegeberufe. Hier braucht es eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung für die Patienten. Auch da ist die Möglichkeit zur Flexibilisierung eingeschränkt. Da wo es möglich ist, bieten wir unterschiedliche Dienstzeiten an oder auch Teilzeitarbeit.

Gibt es Überlegungen, den Leuten finanziell höhere Anreize zu setzen?

Wir bezahlen nach Tarif und werden bei dem Modell bleiben. Letztendlich werden die Gehälter auch über einen Marktmechanismus bestimmt. In England fehlen wegen des Brexit seit einiger Zeit Lkw-Fahrer – da gehen die Löhne jetzt nach oben. Wenn sich zum Beispiel die Zahl der Pflegekräfte weiter verringert, wird das über die Zeit ebenfalls dazu führen, dass die Löhne steigen oder durch andere Anreize der Berufseinstieg attraktiver gemacht werden muss.

Hat Fresenius durch die Corona-Pandemie nicht auch Geld eingespart? Geschäftsreisen waren lange nicht möglich. Und durch das Homeoffice wollen viele Unternehmen künftig auch Büroflächen reduzieren. Fresenius auch?

Dass wir Geld eingespart haben, kann man so pauschal nicht sagen, ganz im Gegenteil: Wir haben enorm in die Hardware-Ausstattung der Mitarbeiter investiert. Wer bisher keinen Laptop hatte, bekam einen Laptop, wo dies notwendig war. Die Leute können jetzt auch Monitore mit nach Hause nehmen. Dazu mussten wir bei der Sicherheitssoftware nachrüsten. Die Büroflächen und damit die Kosten haben wir nach wie vor, planen aber auch, beides zu reduzieren. Weniger Reisen oder Fahrten ins Büro sind ein Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit, was Umweltthemen betrifft. Gleichzeitig haben wir einen dramatischen Preisanstieg, zum Beispiel bei Energie. Auch das gleichen wir zumindest zu einem Teil durch die Einsparungen bei den Geschäftsreisen aus.

Wie stark ist die Reisetätigkeit bei Fresenius zurückgegangen?

Die Entwicklung der Zahlen zu unseren Geschäftsreisen erfassen wir nicht zentral. Für Deutschland können wir sagen, dass es 2020 etwa zwei Drittel weniger Geschäftsreisen bei uns gab. Wenn Sie davon ausgehen, dass der harte Lockdown erst im April kam, heißt das, dass in den restlichen neun Monaten praktisch nicht mehr gereist wurde. So wird das natürlich nicht bleiben, denn die persönlichen Begegnungen sind nicht nur an den einzelnen Standorten wichtig, sondern auch standortübergreifend. Das kann ich aus meiner eigenen Onboarding-Erfahrung sagen.

Wie lief das denn ab?

Ich bin im Dezember 2020 im harten Lockdown gekommen, da war praktisch niemand im Büro. Das hat es nicht gerade leichter gemacht, Kontakte zu knüpfen und Beziehungen aufzubauen. So etwas funktioniert, zumindest für meine Generation, sehr viel besser im persönlichen Gespräch. Dazu würde ich hier und da auch gern mal ein Krankenhaus besuchen und dort Menschen treffen und ihnen zuhören. Das kriegen Sie mit der Technik nicht hin, auch wenn sie schon überraschend gut funktioniert, zum Beispiel bei Video-Konferenzen. Doch auch dieses Format läuft meist recht nüchtern ab. Man arbeitet die Agenda ab. Und wenn man am letzten Agendapunkt angelangt ist, drücken alle den Knopf „Verlassen“ – und sitzen dann wieder verlassen an ihrem Schreibtisch.

Wird also nach der Pandemie wieder so viel gereist wie früher?

Ich gehe schon davon aus, dass wir dauerhaft weniger Reisen haben werden, vielleicht so um die minus 20 %. Viele Kollegen haben nämlich auch festgestellt, dass Reisen eigentlich gar nicht so toll ist, wie man immer gedacht hat und dass es auch ganz schön ist, nicht ständig in irgendwelchen Schlangen am Flughafen zu stehen und danach im engen Flugzeug zu sitzen. Hier hat ein gewisses Umdenken stattgefunden, was Dienstreisen betrifft. Das basiert auch auf den positiven Erfahrungen, die die Leute mit den digitalen Kommunikationsmitteln ge­macht haben.

Macht Fresenius den Mitarbeitern im Homeoffice bestimmte Vorgaben, von wo aus die Arbeit erfüllt werden muss?

Wir machen hier bislang keine Vorgaben, müssen aber darauf achten, dass bestimmte gesetzliche Erfordernisse eingehalten werden. Wer seine Mitarbeiter zum Beispiel mehr als 20 Tage lang im Ausland arbeiten lässt, bekommt als Arbeitgeber auch sozialversicherungsrechtlich Probleme. Darauf müssen wir achten und das wird auch kommuniziert. Im Moment diskutieren wir zudem eine Betriebsvereinbarung, in der wir festlegen, dass jeder Mitarbeiter, wenn erforderlich, am nächsten Morgen am Standort sein können sollte. Das halte ich nicht nur für legitim, sondern auch für wichtig. Wir brauchen Homeoffice, es sollte aber kein Vacation Office sein.

Warum nicht?

Vor nicht allzu langer Zeit hatten wir immer wieder Diskussionen über die ständige Erreichbarkeit von Mitarbeitern. Hier hatte Volkswagen positive Schlagzeilen gemacht, nachdem der Konzern seinen Mitarbeitern eine Software auf ihr Smartphone gespielt hatte, mit der sie nach 18 Uhr keine E-Mails mehr empfangen konnten. Das galt damals als eine ganz tolle Idee. Jetzt sind wir zwei, drei Jahre weiter und plötzlich reden alle davon, dass Menschen doch eigentlich immer und überall arbeiten können sollten, damit sie die maximale Flexibilität haben. Hier gibt es aber erhebliche Risiken.

Die da wären?

Im aktuellen Work Trend Index von Microsoft haben sich 55 % der Befragten im Homeoffice, also die Hälfte, überarbeitet gefühlt, 42 % waren erschöpft. Wenn wir jetzt auch noch Vacation Office einführen, also die Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit noch weiter auflösen, tun wir uns und den Mitarbeitern keinen Gefallen. Wir sollten uns nicht von der Begeisterung totaler Flexibilisierung hinreißen lassen. Es ist vielmehr auch unsere Pflicht, die Kollegen vor zu viel Flexibilität zu schützen, weil sie sie überfordern kann. Ich glaube, dass die Pandemie bei vielen zu erheblichen psychischen Belastungen geführt hat.

Wie kann man dem entgegenwirken? Es sind sich ja schließlich alle einig, dass die hybride Arbeitswelt gekommen ist, um zu bleiben. Noch dazu steigt die bundesweite Inzidenz seit einiger Zeit wieder deutlich an.

Man sollte als Führungskraft vor allem sehr aufmerksam sein und Antennen für gewisse Signale entwickeln. Das ist eine große Verantwortung und lässt sich nicht von heute auf morgen lernen. Dabei stellt sich natürlich die Frage: Wie kann ich meine Antennen schärfen, wenn ich die Leute nicht mehr sehe? Bestimmte Signale und Emotionen spürt man nicht, wenn man vor dem Bildschirm sitzt. Daher ist es wichtig, dass Menschen trotz allem regelmäßig zusammenkommen.

Mit welchen Mitteln erfassen Sie im Konzern die Stimmung unter den Mitarbeitern?

Wir machen Mitarbeiterbefragungen auf Ebene unserer Unternehmensbereiche. Gerade erst haben Fresenius Medical Care und Fresenius Kabi weltweite Befragungen durchgeführt. Wir werten diese Ergebnisse aus und ziehen daraus unsere Lehren. Weil wir aber auch ein klareres Bild bekommen wollen, wo wir nach der Pandemie stehen, planen wir für nächstes Jahr erstmalig auf Konzernebene eine weltweite Mitarbeiterbefragung.

Wie versuchen Sie, die Zufriedenheit bei den Mitarbeitern darüber hinaus aufrechterhalten?

Da gibt es zunächst das Employer Branding, also die Beschäftigung mit der Frage, wie wir wahrgenommen werden – insbesondere bei denen, die überlegen, sich in der Gesundheitsbranche zu bewerben. Hier arbeiten wir daran, dass die Marke Fresenius bekannt bleibt und bei den Leuten mit positiven Assoziationen einhergeht. Dabei nutzen wir die üblichen Instrumente wie Bewerberportale, oder Social Media. Daneben haben wir jede Menge virtuelle Events für unsere Mitarbeiter organisiert. Wir haben zum Beispiel den jährlichen Fresenius-Team-Run zu einem virtuellen Ereignis gemacht. Wir haben Online-Koch-Events veranstaltet. Unsere jährliche „Nacht der Ausbildung“ haben wir diesmal auch virtuell abgehalten.

Hat sich der Aufwand im Personalmanagement durch all die coronabedingten Veränderungen eigentlich vergrößert?

Wir haben viele Dinge zum ersten Mal gemacht und gerade am Anfang sehr schnell machen müssen, ohne dass wir dabei große Erfahrung hatten und ohne dass wir in der üblichen Form darüber diskutieren konnten. Da ist sehr viel in den Personalabteilungen geleistet worden. Wir hoffen, dass wir jetzt wieder in einen Normalmodus übergehen können. Der Weg hin zum flexiblen Arbeiten bedeutet für alle Führungskräfte langfristig einen höheren Aufwand in der Personalführung. Dabei geht es nicht um mehr Kontrollaufwand, sondern zum Beispiel um die Planung der Erreichbarkeit und Abstimmung. Die Teams müssen ja trotz allem weiter zusammenkommen – und zwar auch dann, wenn der eine lieber früher und der andere lieber später anfängt. Das muss organisiert werden. Natürlich hilft hier die Technik. Aber der Aufwand wird größer.

Das Interview führte

BZ+
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