Industrie droht großer Aderlass
Industriestandort Frankreich
Auch Frankreichs Industrie muss kämpfen
Gewerkschaften sehen bis zu 200.000 Arbeitsplätze gefährdet – 71 Industriestandorte in diesem Jahr geschlossen oder bedroht
Automobilzulieferer wie Michelin und Valeo wollen Werke in Frankreich schließen. Nach Angaben der Gewerkschaft CGT hat sich die Zahl der Unternehmen, die Sozialpläne auflegen, seit Mai mehr als verdoppelt. Betroffen sind wie in Deutschland vor allem Automobil-, Chemie-, Stahl- und Raumfahrtindustrie.
wü Paris
Von Gesche Wüpper, Paris
Arcelor Mittal, Exxon Mobile, Michelin und Valeo: Die Liste der Unternehmen, die Werke in Frankreich schließen wollen, wird immer länger. Gewerkschaftsvertreter fürchten, dass sich der Aderlass der Industrie in den kommenden Wochen weiter beschleunigen könnte. Bereits jetzt sind ihren Angaben zufolge mehr als 250 Sozialpläne angekündigt worden oder in Vorbereitung. Gefährdet seien 170.000 bis 200.000 Arbeitsplätze gefährdet.
Insgesamt sind laut Berechnungen der Fachzeitschrift „Usine Nouvelle“ seit Beginn des Jahres 71 Industriestandorte in Frankreich geschlossen worden oder von Schließung bedroht. Industrieminister Marc Ferracci hatte bereits Anfang des Monats gewarnt, dass in den kommenden Wochen und Monaten weitere Standortschließungen bekannt werden könnten.
Zahl der Sozialpläne steigt stark an
Im Mai habe es in Frankreich 130 Pläne für Stellenstreichungen gegeben, sagte die Generalsekretärin der kommunistischen Gewerkschaft CGT, Sophie Binet, dem Nachrichtensender BFMTV. Als sie Ende September den neuen Premierminister Michel Barnier getroffen habe, sei die Liste der Sozialpläne bereits auf 180 angestiegen gewesen. „Heute sind wir bei fast 300“, erklärte Binet. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Wir müssen etwas tun. Wir können diesen industriellen Aderlass nicht zulassen.“
Ein Blick auf die von der CGT erstellte Karte zeigt, dass fast alle Regionen in Frankreich von den Sozialplänen betroffen sind, allen voran aber der Norden, der Osten, das Rhone-Tal, die Normandie und die nördliche Atlantikküste. Wie in Deutschland leiden vor allem die Automobil-, die Chemie-, die Stahl- und die Raumfahrtindustrie. So fürchtet die französische Chemieindustrie beispielsweise, dass in den kommenden drei Jahren 15.000 von insgesamt 200.000 Stellen wegfallen könnten.
Automobilzulieferer leiden
Von den Sozialplänen sind nach Angaben Binets vor allem große Unternehmen betroffen. „Die Restrukturierungen dürften Folgen für die kleinen Zulieferer haben, von denen es wesentlich mehr gibt“, warnte sie. Zu den großen Konzernen, die Standorte aufgeben wollen, gehört Michelin. Der Reifenhersteller will zwei Werke in Cholet bei Nantes und in Vannes mit 1.254 Mitarbeitern schließen. Valeo wiederum hat gerade das Aus für ein Werk in La Suze-sur-Sarthe sowie für ein Forschungs- und Entwicklungszentrum im südwestlich von Paris gelegenen La Verrière angekündigt. Der Automobilzulieferer will 1.018 Stellen in Europa streichen, davon 868 in Frankreich. Den meisten Mitarbeitern des Forschungs- und Entwicklungszentrums sollen Arbeitsplätze an anderen Standorten im Großraum Paris angeboten werden.
Der auf Automatikgetriebe spezialisierte Automobilzulieferer Dumaray Powerglide will in Straßburg 250 Stellen abbauen, nachdem er seinen Hauptkunden ZF aus Deutschland verloren hat. Das Schicksal der 300 Mitarbeiter der Fonderie de Bretagne, einer einst zu Renault gehörenden Gießerei, ist ebenfalls mit Deutschland verknüpft, denn sie soll von der Beteiligungsgesellschaft Private Assets aus Hamburg übernommen werden. Doch die Verhandlungen scheinen zu stocken, da die Beteiligungsgesellschaft von Renault dem Vernehmen nach Garantien fordert, eine bestimmte Anzahl an Automobilteilen abzunehmen.
Streiks am 12. Dezember geplant
Die Opel-Mutter Stellantis will zwar ein Werk für Nutzfahrzeuge im britischen Luton schließen, hat jedoch versprochen, die Produktion in ihren Werken in Frankreich trotz des schwierigen Umfeldes bis 2027 aufrechtzuerhalten. Nach Informationen der Wirtschaftszeitung „Les Echos“ hat sie jedoch die Produktion der französischen Standorte in diesem Jahr um rund 20% reduziert und die Produktionsziele für die kommenden Jahre gesenkt.
Gewerkschaftsführerin Binet macht nun Druck auf die Regierung, Generalstände für die Industrie einzuberufen und ein Moratorium für beschlossene Sozialpläne zu verhängen. Binet, die für den 12. Dezember zu Streiks aufruft, plädiert zudem dafür, Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern zu verpflichten, einen Käufer zu suchen, wenn sie einen Standort schließen wollen. Industrieminister Ferraci will Brüssel Vorschläge zur Unterstützung der Industrie machen.
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