Kein ewig schlafender Riese mehr
Michael Flämig.
Herr Dr. Thomas, warum verzichtet Siemens auf ein formales neues Unternehmensprogramm?
Siemens hat in seiner jetzigen Aufstellung einen sehr guten Reifegrad erreicht. Wir tragen zu Recht das Attribut eines fokussierten Technologie-Unternehmens. Deshalb müssen wir kein Veränderungsprogramm auflegen. Wir setzen auf eine wertorientierte Wachstumsstrategie und ein der Positionierung entsprechendes, transparentes Zielesystem.
Was ist neu?
Es gibt eine Fülle von Anpassungen. Wir wollen den Informationsbedarf des Kapitalmarkts über die nächsten Jahre antizipieren. Das aktualisierte Financial Framework enthält daher neue Größen wie die Resilienzangabe für den wiederkehrenden Umsatz der Geschäftseinheit Digital Industries, aber auch viel mehr Transparenz für Siemens Financial Services. In der Messbarkeit unserer Nachhaltigkeitsstrategie sehen wir uns als führend.
Dies klingt nicht nach einer einschneidenden Neuorientierung.
Lassen Sie sich durch das scheinbar Unspektakuläre nicht täuschen. Wir haben alle Tasten der Strategie und der finanziellen Zielvorgaben bespielt. Dies bedeutet: Wir haben jeden einzelnen Hebel der Unternehmenssteuerung angefasst und geben uns ambitionierte Ziele. Die Vollständigkeit unseres Ansatzes wird vielleicht erst im Laufe der Zeit erkannt.
Wann werden die Ziele erreicht?
Die Vorgaben, die im Financial Framework zusammengefasst sind, gelten theoretisch unbegrenzt. Wir orientierten uns aber an den Geschäftszyklen, die je nach Siemens-Geschäft drei bis fünf Jahre dauern. Wir haben also bewusst kein Zieljahr vorgegeben, denn dies würde den unterschiedlichen Dynamiken unserer Geschäfte nicht gerecht. Stattdessen sind die Ziele Durchschnittsvorgaben für diesen Zyklus. Klar ist: Wir sind angesichts der sich ändernden Rahmenbedingungen ideal positioniert.
Wie sieht die Positionierung aus?
Es gibt zwei neue Strömungen, die sich überproportional verstärken. Das eine ist die weitere Digitalisierung der Industrie, die sich durch die Pandemie noch einmal beschleunigt. Diesen Markt haben wir seit über einer Dekade bereits weiterentwickelt und können aus einer Position der Stärke wachsen. Auf diesen Trend stößt die Nachhaltigkeit, dort haben wir uns schon im Jahr 2015 als eines der ersten Industrieunternehmen weltweit zur CO2-Neutralität der eigenen Geschäftstätigkeit bis 2030 verpflichtet. Nun müssen wir unsere Stärken umsetzen.
Welche Quellen speisen das angestrebte Umsatzwachstum?
Wir wollen stärker wachsen als der Markt, und das werden wir auch schaffen. Der Basismarkt wächst um 4 bis 5% jährlich. Unsere Geschäftseinheit Digital Industries hat schon auf dem Kapitalmarkttag 2019 erklärt, dass sie ein Viertel schneller als der Markt zulegen will. Dies scheint zu funktionieren. Unser Portfolio bedient die zwei geschilderten Trends. Außerdem haben wir in der Vergangenheit deutlich mehr als unsere Wettbewerber in Forschung und Entwicklung investiert.
Bleibt es bei einer Quote von 8% bezogen auf den Umsatz?
Wir wollen weiterhin über dem Niveau des Schnitts der wichtigsten Wettbewerber liegen – die natürlich heterogen sind.
Was trägt noch zum überdurchschnittlichen Marktwachstum bei?
Wir profitieren von unserem starken Auftritt in den Wachstumsmärkten. Sie sind für uns besonders wichtig, weil dort aktuell – wie beispielsweise in China – Standards für die Industriedigitalisierung dieser Staaten geschaffen werden.
Die Siemens gerne setzen möchte.
Klar. Warum sind wir heutzutage so stark in Deutschland und in Norditalien? Weil wir in den achtziger Jahren, als die industrielle Durchdringung mit Automatisierungstechnologie stattgefunden hat, dort sehr präsent waren. Darum nutzen heute nahezu alle Autohersteller unsere Technologien.
Warum stellen Sie das Software-Geschäftsmodell auf Service um?
Weil unsere Märkte und Kunden danach fragen. Wenn diese Nachfrage auf technologische Machbarkeit trifft, dann ist es der Zeitpunkt, um den Schalter umzulegen. Und genau das ist jetzt der Fall. Dies kombiniert sich mit dem Wechsel in die Cloud. Der Kunde profitiert von Skalierbarkeit und einem unkomplizierteren Zugang zu Software. Beispielsweise wird er viel besser mit Updates versorgt, bleibt somit technologisch stets auf dem neuesten Stand. Und für uns entstehen langfristig wiederkehrende Umsätze.
Das Geschäft manches Wettbewerbers hat beim Wechsel auf Software-as-a-Service gelitten.
Bei uns bestimmen die Kunden das Tempo der Umstellung. Zudem haben wir den Luxus, dass das industrielle Software-Geschäft eingebettet ist in einen sehr leistungsstarken Technologiekonzern. Die Chance, dass der Wechsel so ohne Brüche gelingt und zum Non-Event wird, ist für uns sehr gut.
Wie wirkt sich der Wechsel auf die Profitabilität aus?
Die operative Ergebnismarge von Digital Industries könnte in einem überschaubaren Zeitraum um zwei Prozentpunkte beeinträchtigt sein. Es hängt von den Kunden ab, ob dieser Zeitraum drei oder vier Jahre lang sein wird. Gleichzeitig wird sich jedoch der Cash-flow kaum verändern. Das ist eine starke Ansage. Außerdem verlassen wir den Korridor für die operative Ergebnismarge der Geschäftseinheit Digital Industries nicht. Es gibt nicht viele Unternehmen, die eine Rendite von 17 bis 23% schaffen.
Was gewinnt Siemens?
Unser Software-Geschäft wird viel stetiger und auch besser einschätzbar. Wir haben eine bessere Kosten- und Resilienzstruktur. Darum werden Unternehmen, wenn sie diese Umstellung durchlaufen haben, vom Kapitalmarkt mit einem höheren Multiple bewertet. Dies ist nicht der Treiber unserer Überlegungen, aber wir nehmen es natürlich billigend in Kauf. Dafür müssen wir durch ein kleines Tal der Tränen, das bei uns nicht materiell sein wird.
Warum nicht?
Das industrielle Software-Geschäft hatte im letzten Geschäftsjahr ein Umsatzvolumen von rund 4,1 Mrd. Euro, mit der Vertical Software von Smart Infrastructure und Mobility zusammen sogar mehr als 4,5 Mrd. Euro. Diese Größenordnung ist auf Konzernebene noch überschaubar. Die Umstellung zum jetzigen Zeitpunkt ist auch deshalb sinnvoll, weil die Wachstumsraten hoch sind – jedes Jahr des Zögerns würde den Übergang erschweren, auch in der Profitabilität. Zudem sind Systemumstellungen einfacher, wenn die Basis noch klein ist.
Wie wird das überproportionale Gewinnwachstum erreicht?
Der nachhaltige Wertzuwachs kommt aus dem Kerngeschäft, dort erhöhen wir ja teilweise die Margen. Darüber hinaus werden wir gewisse Dauerbelastungen reduzieren. Außerdem können sich operative Einheiten außerhalb des Kerngeschäfts verbessern. Letztlich nehmen wir auch die Kosten der Unternehmensführung unter die Lupe.
Wird die Zentrale schrumpfen?
Bei dem Thema Governance-Kosten habe ich großen Respekt aus der Compliance-Zeit mitgenommen. Dies ist ein Feld, das sich nicht für Experimente eignet. Aber wir haben trotzdem große Erwartungen. Zwei Dinge kommen zusammen: Erstens ist das Unternehmen jetzt fokussierter, so dass wir in der Governance fokussierter vorgehen können. Zweitens bietet die Digitalisierung erhebliche Hebel, die die Produktivität stark erhöhen.
Was wollen Sie erreichen?
Wir wollen jährlich steigende Kosten etwa wegen Gehaltserhöhungen durch entsprechende Produktivitätssteigerungen ausgleichen. Gleichzeitig wird das Wachstum von 5% bis 7% mit der gleichen Kostenbasis bewältigt. Außerdem dürfen die Kosten der Unternehmensführung nicht über jenen Betrag steigen, den die unternehmerischen Einheiten über das Entgelt für die Nutzung der Marke Siemens zahlen.
Welche Vorteile sehen Sie?
Die Siemens-Investoren gewinnen eine klare Vorstellung, was wir uns an Governance-Kosten im engeren Sinn erlauben. Wir fühlen uns sehr sicher, dass wir die Erwartungen des Marktes mindestens treffen, wenn nicht sogar übererfüllen – und zwar auch im Wettbewerbsvergleich.
Warum klammern Sie bei Zielvorgaben den Varian-Kaufpreis aus?
In dem Ziel für die Kapitalrendite haben wir berücksichtigt, dass die transformatorische Akquisition von Varian für 16 Mrd. Dollar die Kapitalbasis auf ein neues Niveau gesetzt hat. Wir wollen den Blick auf die operative Performance lenken, deshalb berücksichtigen wir diesen Effekt nicht.
Warum tun Sie dies auch bei der Kaufpreisallokation?
Investoren und Analysten konzentrieren sich seit einigen Jahren auf die Frage, welche Cash-Wirkung aus dem Gewinn pro Aktie kommt. Das Ziel ist klar: Sie wollen die Dividende pro Aktie ableiten. Damit ist die Kaufpreisallokation irrelevant, weil diese PPA-Effekte nicht mehr auf den Mittelzufluss wirken. Unsere neue Form der Guidance gibt also eine Orientierung für die Dividendenausschüttungsfähigkeit aus dem operativen Geschäft.
Dies könnten sich Investoren ja selbst errechnen.
Zu berücksichtigen ist aber auch: Der Gewinn pro Aktie würde stark steigen, wenn nach 8 bis 15 Jahren eine PPA-Belastung endet. In Wirklichkeit passiert dann aber operativ gar nichts, so dass zusätzlicher Erklärungsbedarf entsteht. Ich bin ziemlich sicher, dass wir nicht die Einzigen sind, die diese Art der Guidance in fünf Jahren implementiert haben werden.
Warum macht Siemens die Zusage, die Dividende nicht mehr zu senken?
Eigentlich hatten wir schon eine progressive Dividendenpolitik, weil wir in den vergangenen 25 Jahren die Ausschüttung mindestens konstant gehalten haben. Das hat dazu geführt, dass der Markt erwartet, dass es so weitergeht.
Was ist der Ausgangspunkt?
Wir gehen von jenen 3,50 Euro pro Aktie aus, die wir für das vergangene Geschäftsjahr gezahlt haben.
Wie wird sich der Total Shareholder Return entwickeln?
Wir wollen zeigen, dass wir mehr können, als unser aktueller Kurs von rund 135 Euro wiedergibt. Mit dem Einsetzen des Re-Ratings nach dem Spin-off von Siemens Energy haben wir einen großen Schritt gemacht. Aber die Entwicklung ist noch nicht zu Ende.
Die durchschnittliche Vorgabe der wichtigsten Siemens-Analysten für den Aktienkurs liegt mit 165 Euro ziemlich hoch.
Einige Analysten haben tatsächlich sehr mutige Prognosen in den Raum gestellt, die mir Respekt abnötigen. Da steckt viel Vertrauen in das Unternehmen drin. Aber: Siemens befreit sich aus der Wahrnehmung eines ewig schlafenden Riesen.
Ist der Kursanstieg nicht nur eine Folge der Trennung von den Energie-Aktivitäten?
Die Entwicklung der Siemens-Aktie in den vergangenen Monaten ist natürlich dem Re-Rating zuzuordnen. Es hat sicherlich im Markt auch positiv beeindruckt, dass wir bei Healthineers mit Platzierung und transformatorischer Akquisition Wort gehalten haben. Hinzu kommt unser starker Start ins Geschäftsjahr. Dies alles gibt Vertrauen und strahlt Zuverlässigkeit aus – wofür wir ja auch stehen wollen.
Wann verkauft Siemens weitere Anteile der Siemens Energy AG?
Wir haben erklärt, das jetzige Aktienpaket 12 bis 18 Monate zu halten und es anschließend, wenn es die Marktsituation erlaubt, teilweise zu verkaufen. Dies werden wir aus heutiger Sicht auch einlösen. Wir haben nicht die Absicht, in der Aktionärsstruktur auf Dauer die gleiche Rolle wie bei Siemens Healthineers zu spielen. Aber wir orientieren uns nicht blind am Erreichen eines Datums.
Hält Siemens weiterhin mindestens 25%?
Theoretisch wäre dies eine sinnvolle Größe. Natürlich muss man die Möglichkeit einer zehnprozentigen Kapitalerhöhung berücksichtigen, denn es gibt ja eine entsprechende Ermächtigung durch die Hauptversammlung. Wenn ich diese potenzielle Verwässerung einberechne, wäre ein Paket von gut 27,5% sinnvoll.
Das Re-Rating der Siemens AG läuft allerdings so langsam aus.
Es kommt ein starker Total Shareholder Return jenseits der Kursrally hinzu. Wir haben eine Dividendenrendite von durchschnittlich 3,3% und starten einen neuen Aktienrückkauf, den wir dem Kursniveau anpassen. In der Folge ist der Total Shareholder Return nicht nur im Vergleich mit dem Kapitalgütermarkt beachtlich.
Das Interview führte