Oliver Kehren

„Kein Tsunami an Insolvenzen“

Die Insolvenzwelle im Gefolge der Pandemie ist ausgeblieben und wird es wohl auch bleiben. Den Sanierungsexperten geht die Arbeit dennoch nicht aus. Das Sanierungsthema der Zukunft heißt ESG.

„Kein Tsunami an Insolvenzen“

Von Annette Becker, Düsseldorf

Allen Unkenrufen zum Trotz ist die im Gefolge der Pandemie befürchtete Insolvenzwelle bislang ausgeblieben und wird es wohl auch bleiben. „Nach dem Auslaufen der staatlichen Stützungsmaßnahmen wird es keinen Tsunami an Insolvenzen geben“, sagt Oliver Kehren, Managing Director bei Morgan Stanley Deutschland und seit Ende voriger Woche Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft für Restrukturierung TMA Deutschland, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung.

Auch die Vorstellung, dass hierzulande an jeder Ecke ein Zombie-Unternehmen lauert, sei weit überholt. Natürlich gebe es Unternehmen, deren operativer Ertrag nicht ausreiche, um den Schuldendienst zu leisten. Aber deren Zahl sei heute nicht größer als vor Ausbruch der Pandemie, glaubt Kehren. Wie viele andere Restrukturierungsexperten geht auch er davon aus, dass die Zahl der Insolvenzen nach dem Auslaufen der staatlichen Hilfsmaßnahmen wieder wächst, allerdings nur auf das (niedrige)  Vor-Pandemie-Niveau.

Ihre Daseinsberechtigung hat die TMA Deutschland jedoch auch ohne steigende Insolvenzzahlen und schlagzeilenträchtige Restrukturierungen nicht verloren. Zwar macht Kehren kein Hehl daraus, dass die Enttäuschung ob der nur zögerlichen Nutzung des neuen Sanierungsverfahrens groß ist. Doch im Nachbesserungsbedarf am Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen – kurz: StaRUG – sieht Kehren eben auch eine Aufgabe für seine Amtszeit.

Bislang, sagt Kehren, liege der Wert des StaRUG vor allem in seiner abschreckenden Wirkung: „Es wurde erreicht, Akkordstörer im Zaum zu halten.“ Denn für die vorinsolvenzliche Sanierung nach dem StaRUG genügt die Zustimmung der qualifizierten Mehrheit der Gläubiger. Im Gegensatz dazu müssen bei einer außergerichtlichen Restrukturierung alle Gläubiger an Bord geholt werden. Das machte in der Vergangenheit den Weg frei für Investoren, denen vor allem am Querschießen gelegen war. Nun genügt bisweilen die Drohung mit dem StaRUG, um diese zum Einlenken zu bewegen.

Wettstreit der Systeme

Das allein reicht jedoch nicht, um dem präventiven Sanierungsverfahren auf die Sprünge zu helfen. „Die Änderungen kurz vor Toresschluss waren nicht hilfreich“, stellt Kehren nüchtern fest. So seien wichtige Passagen wie der „shift of fiduciary duties“ gestrichen worden. Damit wäre es der Geschäftsführung ermöglicht worden, die Interessen der Gläubiger über die der Gesellschafter zu stellen – ohne sich Haftungsrisiken auszusetzen. Auch die Möglichkeit, Dauerschuldverhältnisse wie beispielsweise Mietverträge mit Rückendeckung der Gläubigermehrheit einseitig zu kündigen, wurde gestrichen. Das verleite zur Abwanderung nach Großbritannien. Zudem gebe es keine Schutzregelungen für Kreditgeber, die einen Sanierungsbeitrag leisten wollen, bemängelt Kehren.

Last but not least empfiehlt der Sanierungsexperte Deutschland mehr Selbstbewusstsein beim Umgang mit Restrukturierungsverfahren. Denn während das britische Scheme of Arrangement hierzulande schon fast zu Berühmtheit gelangt ist und deutsche Unternehmen ihren Rechtssitz verlagern, um das britische Sanierungsverfahren nutzen zu können, gebe es Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von Gerichtsentscheiden aus StaRUG-Verfahren im Ausland. Hatte die Zunft der Sanierungsberater auch mit Blick auf ein vergleichbares Gesetzesvorhaben in den Niederlanden im vorigen Jahr Druck gemacht, dass das StaRUG zum 1. Januar in Kraft tritt, droht nun ernst zu nehmende Konkurrenz. Auch Frankreich ist einen Schritt weiter (siehe Interview Seite 9). „Der Wettbewerb der Systeme ist voll entbrannt“, sagt Kehren.

Auch ohne Insolvenzwelle wird Restrukturierungsexperten die Arbeit aber so schnell nicht ausgehen. Denn der Druck wächst. Neben den Nachwehen der Pandemie, die ihren Niederschlag bei einigen Unternehmen in hoher Verschuldung gefunden haben, bergen auch die gestiegenen Rohstoffpreise, die Lieferkettenengpässe und die anziehende Inflation reale Gefahren. Ganz zu schweigen von der bevorstehenden Transformation der Wirtschaft, die zahlreiche Geschäftsmodelle ins Wanken gebracht hat und bringt. Ein Thema, das durch die staatlichen Hilfen vielfach überdeckt wurde, nun aber immer drängender wird. „ESG ist das Thema der Zukunft und die beginnt schon heute“, warnt Kehren.

Gerade die kreditgebenden Banken stehen hier unter Zugzwang, müssen sie der EZB doch bis zum Jahresende darlegen, wie sie Klimarisiken in ihr Risikomanagement integrieren. Damit werden die Kreditportfolios nach den Aspekten Environment, Social, Governance (ESG) unter die Lupe genommen und die Risiken erhalten ein Preisschild. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass die ESG-Risiken aus Krediten die individuellen Kapitalanforderungen der Banken beeinflussen werden.

Damit steigt automatisch auch der Druck auf die Unternehmen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Denn bestenfalls werden Kredite für Firmen mit Nachhaltigkeitsdefiziten teurer, schlimmstenfalls wird der Kredithahn zugedreht. Der Sanierungsbedarf, der aus der ESG-Ecke komme, werde vielfach unterschätzt, glaubt Kehren und verweist darauf, dass selbst Private-Debt-Fonds ihre Engagements nicht nur durch das Investment Committee, sondern auch durch das ESG-Committee bringen müssen. „ESG wird die Restrukturierung maßgeblich beeinflussen“, ist Kehren überzeugt.

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