Krisengewinner in der Pandemie
Von Carsten Steevens, Hamburg
Fast bis zum Ende des vergangenen Jahrzehnts befand sich die Containerschifffahrt im Krisenmodus. Infolge der Finanzmarktkrise geriet die Branche vor gut einer Dekade in schwere See – sichtbar an Überkapazitäten und einem scheinbar strukturellen Problem der Frachtratenerosion. Jahrelang wurden hohe Verluste eingefahren, die Eigentümer der Reedereien beklagten ständige Wertvernichtung. 2014 setzte eine neuerliche Konsolidierungswelle ein – mit der Konsequenz, dass in den folgenden vier Jahren etliche Reedereien durch Fusionen und Übernahmen, aber auch durch Insolvenz von der Bildfläche verschwanden. Die Bereinigung ließ den Anteil der zehn führenden Branchenunternehmen an den verfügbaren Stellplätzen auf den Schiffen von rund 60% auf über 80% steigen. Zugleich ging diese Konzentration mit der Bildung dreier globaler, teilweise neu formierter Allianzen zwischen den Reedereien einher, die die Position der Schiffsbetreiber in Verhandlungen mit Verladern und Hafenkonzernen deutlich stärkte.
In den ersten Wochen und Monaten nach Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang 2020 ließ ein starker Rückgang des weltweiten Containertransportvolumens befürchten, die Branche könnte erneut in größere Not geraten. Sparprogramme wurden aufgelegt. Doch die Transportmengen auf hoher See zogen bald wieder an. Weltweit schnellte die Güternachfrage hoch, während die Reisebranche und andere Dienstleistungsbereiche mit Verbreitung des Coronavirus das Nachsehen hatten. Weil Transportkapazitäten zunehmend knapp wurden und zugleich regionale Covid-19-Restriktionen ab dem zweiten Halbjahr 2020 gravierende Störungen in den globalen Lieferketten und mithin große Verzögerungen bei Löschung und Beladung von Containerschiffen in den Häfen verursachten, verbesserte sich die Ertragslage der großen Reedereien rasant.
„Exzesse“
Diese gehören inzwischen zu den größten Gewinnern in der Coronakrise. Im laufenden Jahr steuern die Unternehmen auf nochmals deutlich höhere Rekordgewinne zu – das lassen Prognosen börsennotierter Gesellschaften wie Mærsk und Hapag-Lloyd erkennen, die nach dem ersten Halbjahr zum wiederholten Mal im bisherigen Jahresverlauf angehoben wurden. So erwartet der Branchenzweite aus Dänemark aktuell operative Ergebnisse vor und nach Abschreibungen von 34,5 bzw. 29 Mrd. Euro, die weltweite Nummer 5 aus Hamburg rechnet mit einem Ebitda zwischen 18,2 und 20,1 Mrd. Euro und einem Ebit zwischen 16,3 und 18,2 Mrd. Euro. Mit Blick auf eine Umsatzrendite im ersten Halbjahr von 53 % spricht selbst Hapag-Großaktionär Klaus-Michael Kühne von Exzessen, die nicht nachvollziehbar seien. Die enormen Gewinne ergäben sich aus überhöhten Frachtraten, die immer noch hingenommen würden, sagte der Logistik-Milliardär unlängst in einem FAZ-Interview. Kunden zahlten fast jeden Preis, um ihre Waren transportieren zu lassen und ihre Lieferketten aufrechtzuerhalten. Das werde aber nicht mehr lange andauern. Kühne geht davon aus, dass sich die Lage im vierten Quartal zu normalisieren beginnt.
Ein Indiz für diese Annahme ist die Ratenentwicklung. Der Shanghai Containerized Freight Index (SCFI) etwa, der die Spot-Frachtratenentwicklung auf den wichtigsten Handelsrouten von Schanghai abbildet, ist seit Beginn dieses Jahres um fast 45% gesunken. Das spreche dafür, dass der Höhepunkt bei den kurzfristigen Raten überschritten sei, heißt es bei Hapag-Lloyd. Mærsk verweist ebenfalls auf eine deutliche Abkühlung der vor wenigen Monaten noch sehr hohen Ratenniveaus und geht angesichts der makroökonomischen Entwicklungen und einer erwarteten Konsumzurückhaltung durch die hohen Inflationsraten weltweit davon aus, dass sich der Rückgang der Raten ohne überraschende Ereignisse im vierten Quartal und auch 2023 fortsetzen sollte.
Allerdings sind diese Erwartungen mit Fragezeichen verbunden, auch weil sich nach wie vor nicht sicher absehen lässt, wie lange Lieferkettenstörungen und Verstopfungen an den Hafenterminals noch andauern. „Wir können nicht vorhersehen, wie sich die aktuelle Situation weiter entwickeln wird“, teilte eine Sprecherin des Hamburger Hafen- und Logistik-Konzerns HHLA mit, der im größten deutschen Seehafen drei von vier Containerterminals betreibt. Man gehe aber davon aus, dass die Störungen in den Lieferketten noch mindestens bis zum nächsten Jahr anhalten werden.
Das Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) konstatiert in seiner jüngsten Monatsanalyse zum weltweiten Handel, dass in den beobachteten Wartebereichen erstmals der Stau der Schiffe in der Nordsee am gravierendsten sei. Deutlich über 2% der globalen Frachtkapazität stünden dort still und könnten weder be- noch entladen werden. Beim Verband Deutscher Reeder (VDR) verweist man darauf, dass sich die Staus insbesondere vor US-Häfen und einigen wichtigen asiatischen Häfen zwischenzeitlich überwiegend abgebaut hätten, nun jedoch häufiger Schiffsstaus vor nordeuropäischen Häfen mit teils erheblichen Wartezeiten für Containerschiffe zu beobachten seien. Derzeit lägen etwa 37% der weltweiten Schiffskapazitäten in und vor Häfen, so VDR-Hauptgeschäftsführer Martin Kröger. 2019 habe dieser Wert noch bei 31% gelegen. Die Reederei Mærsk, die von einer Verbesserung der Fahrplangenauigkeit im Ocean-Netzwerk spricht und aktuell Engpässe vor allem im Hinterlandverkehr etwa durch den Mangel an Lkw-Fahrern in Europa sieht, erklärt, es sei schwer vorherzusagen, wann sich die Lage wieder komplett normalisiert haben werde. Hapag-Lloyd rechnet damit, dass sich die noch angespannte Situation in den globalen Lieferketten nach der diesjährigen „Peak Season“ der Branche, dem dritten Quartal, verbessern sollte.
„New Normal“
Prognosen der Reedereien hinsichtlich einer Normalisierung dürften indes kaum den Transportpreisen gelten. Ratenniveaus wie zwischen 2008 und 2019 werden Carrier nicht im Sinn haben, die auf Basis der Entwicklungen der vergangenen Quartale über längerfristige Kontrakte sprechen. Diese geben Verladern die Möglichkeit, prognostizierte Risiken von Marktschwankungen auf längere Sicht abzufedern. Solche Verträge sind für langfristig planende Ladungseigentümer in der Regel attraktiver, als kurzfristig im schwankenden Spotmarkt Schiffsraum einzukaufen, wie VDR-Hauptgeschäftsführer Kröger erläutert. Es sei aber zu einem gewissen Grad eine Wette auf künftige Marktentwicklungen. Gleiches gilt auf der Ertragsseite für die Reedereien, die sich mit den Verträgen mehr Planungssicherheit verschaffen, da längerfristige Prognosen zu den Ratenniveaus nicht möglich sind. In der Branche heißt es nun, eine Rückkehr zu Ratenniveaus vor der Pandemie sei eher unwahrscheinlich, da auch die Transportaufwendungen deutlich gestiegen seien.
Während die Unternehmen derzeit Probleme haben, ihre Lieferversprechen durch Pünktlichkeit bei den Kunden zu erfüllen, versuchen einige durch differenziertere Dienstleistungen Kundenbeziehungen zu vertiefen. Das Ziel lautet, unabhängiger zu werden von der volatilen Entwicklung der Frachtraten im reinen Seetransportgeschäft. Derweil bieten die derzeit extrem hohen Gewinne den Reedereien die Möglichkeit, sich auf neue, etwa von 2023 an geltende Umweltschutz- und Verbrauchsregularien für den CO2-Ausstoß in der Schifffahrt einzustellen. Das Orderbuch hat im vergangenen und in diesem Jahr wieder spürbar zugenommen, wenngleich der Anteil der Bestellungen neuer Containerschiffe an der weltweit fahrenden Gesamtflotte mit gut 28% zuletzt noch deutlich unter dem Niveau von rund 55% zur Zeit der Finanzkrise lag, das die Basis für den ruinösen Wettbewerb der Folgejahre bildete. In der Branche wird damit gerechnet, dass den Kapazitätszuflüssen infolge der Einführung neuer Schiffe vom nächsten Jahr an zunehmende Außerbetriebnahmen und Verschrottungen von älteren und ineffizienten Schiffen gegenüberstehen werden. Insgesamt sei in den kommenden Jahren damit zu rechnen, dass sich Angebot und Nachfrage wieder auf einem normalisierten Niveau einpendeln, so Hapag-Lloyd.
„Probleme an Land“
Mutmaßungen und Klagen von Ladungseigentümern angesichts der aktuell hohen Transportpreise und Gewinne in der Containerschifffahrt, der Wettbewerb in der Branche funktioniere nicht mehr, tritt die Schifffahrt entgegen. Der Containerstau, der diese höheren Preise ausgelöst habe, sei, so Mærsk, durch die landseitigen Probleme verursacht worden, durch den Mangel an Arbeitskräften und langfristig viel zu geringe Investitionen in die Infrastruktur. Die Preisgestaltung in der Containerschifffahrt werde weiterhin von Angebot und Nachfrage bestimmt, der Wettbewerb funktioniere gut. Die Volatilität sei im Allgemeinen höher als in anderen Branchen. Der Reederverband fügt hinzu, ein Blick auf die großen Verlader zeige, dass es dort zumindest hinsichtlich der erwirtschafteten Gewinne wenig Grund zu Beschwerden gebe. „Im Gegenteil: Einige große Verlader haben gerade im Seefrachtbereich im letzten Jahr ebenfalls hervorragende Ergebnisse erwirtschaftet und vom hohen Transportkostenniveau, das insbesondere pandemiebedingt war und ist, enorm profitiert.“
Für Kritik, Reedereien erzielten Rekordgewinne, schütteten Milliarden-Dividenden an Aktionäre aus, zahlten aber dank der Tonnagebesteuerung derzeit nur sehr geringe Steuern, wird derweil Verständnis geäußert. In einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“ sagte Hapag-Lloyd-Chef Rolf Habben Jansen vor kurzem, dass das Thema in außergewöhnlichen Jahren diskutiert werde, sei nachzuvollziehen. Darüber müsse man mit der Politik sprechen und ausloten, welche Veränderungen notwendig seien. Das müsse aber in einer Gleichbehandlung für die Branche insgesamt geschehen. Vor einem Jahrzehnt – während der Schifffahrtskrise – habe die Branche mit der Tonnagesteuer 20 bis 30% ihres Nettogewinns an Steuern gezahlt.