Lieferketten

Liefer­engpässe und Preisschübe – ein toxisches Gemisch

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die in Reaktion darauf verhängten Sanktionen führen zu neuen Störungen in den globalen Lieferketten, die durch die Corona-Pandemie und Lockdowns in China ohnehin schon unter hohem Druck stehen. Die Belastungen für den deutschen Mittelstand sind hoch.

Liefer­engpässe und Preisschübe – ein toxisches Gemisch

Von Heidi Rohde und

Martin Dunzendorfer, Frankfurt

Der Sanktionsreigen, den die EU in Reaktion auf Putins Angriffskrieg in der Ukraine angestoßen hat, zieht nicht nur eine Rückzugswelle europäischer Unternehmen aus Russland nach sich. Viele Gesellschaften, die dort nicht direkt mit einer Tochter- oder Partnerfirma vertreten sind, haben gleichwohl an der einen oder anderen Stelle der Wertschöpfungskette Lieferbeziehungen zu russischen Unternehmen, die nun empfindlich gestört sind. Hinzu kommen Störfaktoren wie der Lockdown in mehreren chinesischen Metropolen wie Schanghai und Peking – aufgrund der dortigen strengen Pandemieauflagen –, was die internationalen Güterströme noch mehr ins Stocken bringt.

„Selten gab es so große Gütermengen auf unbewegten Schiffen wie jetzt“, lautet der Befund von KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib. Die Materialknappheit ist dabei sektoral unterschiedlich. Besonders im verarbeitenden Gewerbe und im Bau liege der Anteil der von Lieferengpässen betroffenen Unternehmen bei 78%; im Groß- und Einzelhandel sei der Anteil seit dem Herbst sogar um 5 Prozentpunkte auf 68% gestiegen, wie die bundeseigene Bankengruppe ermittelt hat.

Von den knapp 30% der 3,8 Millionen Mittelständler, die Rohstoffe und Vorprodukte aus dem Ausland beziehen, klemmt es bei acht von zehn Unternehmen in der Lieferkette. Am stärksten betroffen von Lieferstörungen sind Unternehmen, die Vorleistungen aus China, Russland oder dem Vereinigten Königreich – wegen der Brexit-Nachwehen – beziehen. Hier klagen wenig überraschend jeweils rund 90% der Unternehmen über Probleme (siehe Grafik). Allerdings sei trotz der Störungen der internationalen Lieferketten gemäß der Unternehmensbefragung, die im März stattfand, kein breiter Rückzug deutscher Mittelständler aus globalen Wertschöpfungsketten zu erwarten, u.a. weil diese langfristig Kostenvorteile böten.

Treasurer vor Problemen

Wie Christian Piller, Director Banking beim Kreditsoftware-Spezialisten Collenda, weiß, schlagen die Probleme oft zunächst im Treasury auf. Dort stellen sich ganz konkrete Fragen, wie: „Darf ich einen betroffenen Lieferanten eigentlich noch beschäftigen, also auch bezahlen? Und wie bezahle ich ihn, über welche Bank?“ Nicht alle Banken haben für betroffene Unternehmen gleich entsprechende Listen parat gehabt, wenn auch viele „mögliche Umgehungslösungen“ gestrickt haben, um den Geschäftsablauf ihrer Kunden zu unterstützen.

Das Klumpenrisiko in den Handelsbeziehungen zu Russland liegt bekanntlich bei den Rohstoffen. Dazu zählen nicht nur Gas, Öl und Kohle, sondern auch Erze, Metalle und nicht zuletzt landwirtschaftliche Güter. Für die Unternehmen ergibt sich eine Welle an Sekundäreffekten, die aus der Knappheit und Verteuerung dieser Grundstoffe entstehen. Deshalb trifft der Bruch im Handel in und mit Russland die Wirtschaft in der Breite und im Einzelfall erheblich. Ein Beispiel sind anziehende Brotpreise infolge der stark steigenden Preise für Weizen – eine Reaktion, die relativ leicht absehbar war. In anderen Bereichen wurden die Auswirkungen der Verknappung verschiedener Rohstoffe nicht sofort erkannt. So habe die Verteuerung von Holz, Papier und chemischen Vorprodukten die Unternehmen der Verpackungsindustrie vor erhebliche Herausforderungen gestellt, berichtet Piller.

Insgesamt seien Preiserhöhungen die häufigste unmittelbare Folge der Materialknappheit, stellt die KfW fest. Jedes vierte mittelständische Unternehmen habe zuletzt seine Preise erhöht. Preiserhöhungen auf breiter Front für Nahrungsmittel folgen hohen Energiepreisen und Lieferengpässen auf dem Fuß. Weitere Auswirkungen der gestörten Lieferketten seien erhöhter Beschaffungsaufwand (23%), Beeinträchtigung der Produktion (22%) und Nichteinhaltung von Lieferterminen (21%). Seltener komme es zum Aufbau von Lagerbeständen (11%) und der Ablehnung von Aufträgen (9%). Negative Beschäftigungswirkungen blieben dagegen begrenzt (3%) und konzentrierten sich auf den Bau und das verarbeitende Gewerbe.

Schwieriger Rückzug

Ein Rückzug aus Russland, den immer mehr Unternehmen mit Rücksicht auf das Reputationsrisiko einläuten (müssen), gestaltet sich mitunter schwieriger als gedacht. „Es gibt Fälle, da haben Unternehmen bisher ganze Geschäftsbereiche oder Abteilungen in Russland lokalisiert, etwa Teile der IT oder das gesamte Recruting. In diesen Fällen ist es sehr schwer oder unmöglich, dies binnen kürzester Zeit an einem anderen Standort hochzuziehen. In jedem Fall bedrohen Kostenschübe die Lage des Unternehmens“, erläutert Piller.

Müssen Firmen teure alternative Bezugsquellen für wichtige Vorprodukte finden oder ganze Standorte neu aufsetzen, kann sich ihre Finanzierungslage schnell zuspitzen, zumal wenn sie zugleich Umsatzausfälle wegstecken müssen. Piller beobachtet, dass es vor allem für die Banken als Kreditgeber oft „eine äußerst mühsame Recherche ist, die finanzielle Lage ihrer Kunden und mögliche Zahlungsschwierigkeiten zu erkunden“. Je nach Ergebnis und den Bedingungen des Kreditvertrags können die Kreditinstitute die Darlehen fällig stellen, um ihr eigenes Risiko zu minimieren, „oft aber werden sie versuchen, die Kredite zu restrukturieren, um Ausfälle zu vermeiden und den Unternehmen durch eine schwierige Phase zu helfen“.

Allerdings ist sich Piller sicher, dass gerade im Mittelstand ein gewisser Teil der Unternehmen die Krise nicht meistern wird. Denn: „Höhere Zinsen sind in jedem Fall absehbar, und die werden nicht für alle tragbar sein.“

Normalisierung wird dauern

Auch die KfW geht davon aus, dass vor allem für die auslandsorientierten kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland das Jahr 2022 sehr „herausfordernd“ sein dürfte. So gehe kaum ein Mittelständler von einer schnellen Auflösung der Lieferengpässe aus: Zum Zeitpunkt der Befragung im März rechneten gemäß den Angaben 27% mit sechs bis zwölf Monaten und fast ein Drittel mit mehr als einem Jahr. Köhler-Geib betont, dass künftig neben der Effizienz auch der Resilienz von Lieferketten ein hoher Stellenwert zukommen werde.

Die Entwicklung des Auslandsgeschäfts kleiner und mittlerer Unternehmen im laufenden Jahr ist gemäß der KfW-Chefvolkswirtin schwer abzuschätzen. „Zwar exportieren kaum mehr als 2% der deutschen Mittelständler nach Russland und noch weniger in die Ukraine“, führte die KfW-Chefvolkswirtin aus. „Ein starker Wirtschaftsabschwung in Europa würde die Auslandsnachfrage jedoch merklich beeinflussen.“

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