Lieferstörungen können das kleinere Übel sein
md Frankfurt
Unternehmen, die vor der Corona-Pandemie oder vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine auf nur einen Zulieferer – zum Beispiel für ein bestimmtes Bauteil oder ein Agrarprodukt – gesetzt haben, müssen deswegen keine Fehlentscheidung getroffen haben, auch wenn sie infolge der Krise von einem Lieferstopp betroffen sind. Mirko Kremer, seit Juli 2014 Professor für Supply Chain Management an der Frankfurt School of Finance & Management (FS), warnte in einem Pressegespräch davor, Entscheidungen unter Risiko nach deren Ergebnis zu beurteilen. Es könne gute Gründe dafür geben, sich in der Zulieferung nicht am möglichen Auftreten einer Krise und deswegen einsetzender Lieferprobleme zu orientieren.
Es ist ähnlich wie bei einer Versicherung: Rechtfertigen die Mehrkosten, die durch die Auftragsvergabe an mehrere Lieferanten entstehen – u. a. gehen Skaleneffekte verloren –, die Kosten, die bei einer Krise dadurch anfallen, dass das Unternehmen nur auf einen Zulieferer setzt? Die finanzielle Kalkulation ist noch verhältnismäßig einfach: Ein Unternehmen spart beispielsweise 20 Monate lang jeweils 1 Mill. Euro, weil es nur bei einem Zulieferer bestellt. Dann zerstört in dem Szenario ein Feuer dessen Produktionsanlage und die Lieferungen bleiben aus. Der entstehende Schaden beim Auftraggeber liegt bei 10 Mill. Euro. Mithin wäre es aus finanzieller Sicht richtig, in der Zulieferung nicht zu diversifizieren. Allerdings werden in dieser Betrachtung Aspekte wie der Imageschaden außer Acht gelassen. Zudem kann es schwierig sein, den direkten Finanzschaden zu bemessen.
Mehr Transparenz nötig
Krisen wie eine Seuche, Krieg, Naturkatastrophen oder eine Fabrikzerstörung beim Lieferanten wird es immer wieder geben, so Kremer. Folglich werden auch Probleme in den Zulieferketten immer wieder auftreten. Ziel für die Unternehmen müsse es sein, die Dauer solcher Störungen zu verkürzen und deren Heftigkeit abzumildern. Ein wichtiger Schritt, um das zu erreichen, sei die Schaffung von Transparenz. Kremer berichtete, dass es in Deutschland zum Beispiel Nutzfahrzeughersteller gebe, die nur die Hälfte ihrer Zulieferer kennen. Zudem mangele es an Analysen, wie verletzlich die Lieferketten seien und wie stark die Auswirkungen bei einer Störung auf den Auftraggeber seien. Bei der in der Autoindustrie verbreiteten Just-in-time-Produktion seien diese besonders hoch. Dennoch sei hier das System kaum veränderbar, da dies gerade in der Autobranche mit hohem (Kosten-)Aufwand verbunden wäre.
„Schwer zu verkaufen“
Da die Schaffung von Lieferkettentransparenz mit hohem Kostenaufwand verbunden ist, sei eine solche Maßnahme den Entscheidungsträgern „in Business-as-usual-Zeiten intern extrem schwer zu verkaufen“, sagte Kremer, u. a. weil der Return on Investment negativ sei.
Gemäß der von Kremer mitverfassten Studie „Supply Chains in der Krise – Müssen Lieferketten reguliert werden?“ gibt es trotz wiederkehrender Krisen und Lieferkettenprobleme keinen Lerneffekt in den Unternehmen. Als Folge würden diese systematisch zu wenig in ihre Widerstandsfähigkeit gegen Lieferprobleme investieren. Bei kritischen Gütern wie Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Kraftstoffen sollten daher Regulatoren, sprich: der Staat, eingreifen, um die Liefersicherheit so weit wie möglich zu gewährleisten. Bei anderen Gütern sollten die Unternehmen gezwungen werden, so Kremer, Stresstests nach dem Vorbild im Bankensystem durchzuführen. Es sei wichtig, „die Risiken systematischer zu evaluieren“; dafür seien Simulationsmodelle notwendig.