Streaming-Pionier

Netflix nimmt Abschied von alten Prinzipien

25 Jahre nach der Gründung von Netflix quillt der Markt für Video-on-Demand-Dienste förmlich über. Im Ringen um die Aufmerksamkeit der Nutzer pumpen die Dickschiffe unter den Anbietern immer größere Summen in ihre Inhalte. Dem Streaming-Pionier bleibt da kaum eine andere Möglichkeit, als sich radikal zu wandeln.

Netflix nimmt Abschied von alten Prinzipien

Von Karolin Rothbart, Frankfurt

Houston, wir haben ein Problem! Der berühmte Satz von Astronaut James Lovell, bekannt geworden durch den Film „Apollo 13“, ist der Legende nach eng mit der Gründungsgeschichte von Netflix verbunden. 25 Jahre nach der Entstehung des heutigen Streaming-Pioniers lässt er sich durchaus als passende Zustandsbeschreibung für den wettbewerbsgeplagten Konzern heranziehen. Trieb die Idee einer Abo-basierten Online-Videothek den bis dato nur Kabel-TV-gewohnten Medienkonzernen lange Zeit den Schweiß auf die Stirn, so sind mittlerweile längst alle großen Player auf den Zug aufgesprungen. Allerorten ist die Rede von den „Streaming-Wars“, in denen aktuell mehr als 200 Anbieter um die Aufmerksamkeit der zunehmend überforderten Nutzerschaft buhlen. Dabei ist allen Beteiligten längst klar, worauf es in dem Gefecht in erster Linie ankommt.

„It’s all about content, content, content“, wie es Disney-CEO Bob Chapek im Februar bei der Vorstellung von Quartalszahlen formulierte; es geht um „Inhalte, Inhalte, Inhalte“. Doch Inhalte zu beschaffen kostet. Allein im vergangenen Jahr summierten sich die weltweiten Ausgaben kommerzieller und öffentlicher Streaming-Anbieter für Filme, Serien und andere Unterhaltungsformate laut Ampere Analysis auf 220 Mrd. Dollar. Das waren 14 % mehr als im Vorjahr. Und laut den Experten ist das Ende der Fahnenstange damit trotz des zunehmend angespannten wirtschaftlichen Umfelds vorerst noch nicht erreicht.

Die Pipeline ist voll

So wartet Amazon, die 2021 laut Geschäftsbericht 13 Mrd. Dollar für Video- und Musikinhalte in die Hand genommen hat, pünktlich zum Geburtstag von Netflix in den nächsten Tagen mit einem in der Fangemeinde lang ersehnten und kostspieligen Herr-der-Ringe-Prequel auf. Die erste Staffel der Fantasy-Serie soll in der Produktion über 460 Mill. Dollar verschlungen haben, fast drei Mal so viel wie der diesjährige Kino-Kassenschlager „Top Gun: Maverick“. Disney will Anfang 2023 die Star-Wars-Serie „Skeleton Crew“ an den Start bringen. Laut dem „Hollywood Reporter“ liegt das Budget bei 136 Mill. Dollar, womit es die bislang teuerste Serienstaffel im Star-Wars-Universum wäre. Insgesamt plant der Mickey-Mouse-Konzern in diesem Jahr mit 33 Mrd. Dollar etwa ein Drittel mehr in seine Inhalte zu pumpen als 2021. An Zahlen zu den Content-Ausgaben von Apple zu gelangen, ist eher schwierig. Der iPhone-Hersteller ließ sich hier bis zuletzt nicht wirklich in die Karten schauen – Beobachter schätzen aber, dass es im vergangenen Jahr um die 6 Mrd. Dollar gewesen sein dürften.

Andere Spielregeln

Selbst wenn Apples Ausgaben höher waren: Der Konzern kann es sich leisten. Im vergangenen Fiskaljahr warf das Kerngeschäft mit den Smartphones, iPads, Macs und anderer Hardware bei einem Umsatz von etwa 279 Mrd.   Dollar eine Bruttomarge von gut 35 % ab. Auch bei Amazon und Disney sitzt das Geld dank anderweitiger Erlösquellen wie dem Cloud-Geschäft bzw. Themenparks, Ferienanlagen und Kreuzfahrtschiffen vergleichsweise locker.

„Das ermöglicht es den Konzernen, nach anderen finanziellen Regeln zu spielen“, sagt Medienexperte und Managing Director von Accenture, John Peters, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Je diversifizierter die Umsätze, desto einfacher sei auch die Preisgestaltung bei den Abos. „In der aktuellen hochkompetitiven Phase ist das entscheidend und ein echter Wettbewerbsvorteil“, sagt Peters.

Für die Nutzer dürfte das vor allem vor dem Hintergrund der Inflation ein zunehmend wichtiges Kriterium werden. Schon jetzt verzeichneten die Streaming-Dienste laut Peters eine höhere Fluktuation. „Die Konsumenten sagen, dass sie zu viele Abos haben oder dass diese teuer sind.“

Teuer ist im Vergleich bislang vor allem das Angebot von Netflix, die ihre jährlichen Ausgaben für Inhalte in der Vergangenheit immer weiter in die Höhe getrieben hat, auf zuletzt 17,5 Mrd. Dollar. Die Einnahmen bestreitet der Konzern bislang ausschließlich mit dem Streaming-Geschäft. Der Standardtarif schlägt entsprechend mit monatlich 12,99 Euro besonders spürbar zu Buche. Bei Amazon kostet die Prime-Mitgliedschaft, die neben dem Video-Dienst auch Musik-, E-Book- und Gaming-Angebote sowie Versandvorteile umfasst, derzeit noch 7,99 Euro. Ab Mitte September sollen es 8,99 Euro sein – genauso viel, wie Disney pro Monat für seinen Videodienst verlangt. Bei Apple liegt der Monatspreis für den hauseigenen Streaming-Dienst gerade mal bei 4,99 Euro.

Das Thema Preiserhöhungen ist bei Streaming-Diensten generell eine recht sensible Angelegenheit. Regelmäßig gibt es bei entsprechenden Ankündigungen einen Aufschrei unter den Fans. Laut einer Studie der Strategieberatung Simon-Kucher vom August würde derzeit jeder Zweite sein Abo kündigen, wenn der Preis um 30 % steigt.

Balanceakt Preissetzung

Netflix hatte seine Preise zunächst Anfang des Jahres in den USA und Kanada, später dann in Großbritannien und Irland angehoben. Das blieb nicht ohne Folgen. Zwar stieg der Umsatz in den ersten beiden Quartalen um 10 bzw. 9%. Bei der Entwicklung der Nutzerzahlen kam es jedoch zur Zäsur: War es in den letzten Jahren − und coronabedingt speziell 2020 und 2021 − hier steil bergauf gegangen, fiel die Abonnentenzahl im ersten Geschäftsquartal nun erstmals nach zehn Jahren – netto um 200000. Zum Teil lag das am Rückzug von Netflix aus Russland. Zum Teil aber auch an den Preiserhöhungen. Im zweiten Quartal sprangen weitere 970 000 Nutzer ab. Die vierte Staffel der Serie „Stranger Things“ hatte Schlimmeres verhindert.

Eine Entscheidung für einen Anbieter ist nicht selten eine Entscheidung gegen einen anderen, wie Simon-Kucher-Partnerin Lisa Jäger erklärt hatte. Womöglich konnte sich Disney mit seinen On-Demand-Services Disney+, Hulu und ESPN+ auch deswegen im dritten Geschäftsquartal erneut über gestiegene Abo-Zahlen freuen. Der Konzern, der in der Vergangenheit auch vielfach auf Rabatte und Sonderangebote gesetzt hatte, hat Netflix mit rund 221 Millionen Nutzerkonten mittlerweile eingeholt. Das erklärte Ziel für Disney+ lautet, bis 2024 profitabel zu werden. Wegen der hohen Content-Ausgaben hatte Investor Daniel Loeb zuletzt vorgeschlagen, den Sportkanal ESPN abzuspalten. Das dürfte laut dem Gründer des Third-Point-Hedgefonds auch helfen, die Schulden zu senken.

Netflix-Co-CEO Reed Hastings, von dem es oft heißt, dass er den Dienst gegründet hat, nachdem er angeblich 40 Dollar Strafe bei einer Videothek zahlen musste, weil er den Film „Apollo 13“ zu spät abgegeben habe, rechnet für das laufende Quartal zwar wieder mit einem Wachstum der Nutzerzahl von ca. einer Million. Er brach zuletzt dennoch mit einem Tabu des Unternehmens: Um wieder mehr Nutzer auf seine Plattform zu locken und gleichzeitig neue Einnahmequellen zu erschließen, soll vom nächsten Jahr an zunächst „in einer Hand voll Märkten“ ein günstigeres Werbe-Abo ausgerollt werden.

Zuflucht ins Werbemodell

Mit dem Schritt ist Netflix nicht allein – auch bei Disney+ soll es noch in diesem Jahr eine Werbeversion geben, wobei der Konzern zunächst mit vier Minuten Werbung pro Stunde kalkuliert. Und Amazon hat gerade erst im August mit Freevee einen komplett kostenlosen und durch Werbung finanzierten Videostreaming-Dienst gestartet.

Bei Netflix sorgte die Entscheidung dennoch für besonderes Aufsehen. Von einem „Paradigmenwechsel“ war in den Kommentaren die Rede. Beobachter fürchteten, dass der Dienst mit der Einführung von Werbung sein Alleinstellungsmerkmal und damit womöglich Nutzer verlieren könnte. Barclays-Analyst Kannan Venkateshwar wunderte sich darüber, dass das neue Modell gemäß den Plänen in „ausgereiften“ Märkten wie den USA starten soll, wo der Wettbewerb doch ohnehin schon so hoch ist.

Auf der anderen Seite sehen Be­obachter in dem Schritt aber durchaus eine gute Möglichkeit, das Geschäft anzukurbeln. Laut einer Berechnung von Ampere Analysis dürften Netflix mit dem neuen Modell bis 2027 jährlich rund 8,8 Mrd. Dollar zufließen. Das wären 2,2 Mrd. Dollar mehr, als wenn der Streaming-Dienst auf das Werbe-Abo verzichten würde. Für Accenture-Experte Peters ist die Entscheidung des Konzerns denn auch ein Zeichen dafür, dass sich die Industrie gerade ganz grundsätzlich wandelt. „Manche sagen, dass Netflix versagt habe, weil sie ihr Bezahlmodell jetzt ändern müssen. Ich denke eher, dass das der Anfang einer nächsten Phase in der Reise der Streaming-Industrie ist.“

Innovationen müssen her

So gibt es aus Sicht von Peters noch viele Hebel, die Streaming-Dienste wie Netflix in Bewegung setzen können, um das Geschäft breiter aufzustellen und mit anderen Marken in anderen Bereichen zu konkurrieren. „Netflix hat gerade erst sein Gaming-Angebot ausgerollt. Ich glaube, dass das ein richtiger Schritt war, weil es hilft, den Umsatz zu diversifizieren, und weil die Nutzer dadurch länger auf der Plattform bleiben – einfach, weil es dort mehr zu tun gibt. Künftig kommen bei den Anbietern vielleicht noch Podcasts, Musik oder E-Books hinzu. Selbst Glücksspiele und Sportwetten könnten über den Streaming-Kanal abgewickelt werden.“

Auch bei der Preisgestaltung rechnet der Medienexperte in Zukunft mit weiteren Innovationen. „Wenn ich derzeit ein Streaming-Abo abschließe, bezahle ich für die gesamte Angebotspalette. Da habe ich gar keine andere Wahl“, sagt er. „Ich denke, dass wir künftig noch weitere Formen von individuellen Bezahlmodellen und Paketen sehen werden. Vielleicht können Nutzer zum Beispiel künftig je nach Vorliebe einzelne Sportpakete oder Pakete für romantische Komödien oder Dramen buchen.“ Auf diese Weise würden Nutzer noch effizienter das erhalten, was sie wirklich wollen − und somit am Ende auch ein besseres Kosten-Nutzen-Erlebnis bekommen.

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