CO2-Klage

Shell-Urteil: Wendepunkt auch für deutsche Konzerne

Auch deutsche Unternehmen müssen die Shell-Entscheidung eines niederländischen Gerichts intensiv analysieren und in ihrer Strategie berücksichtigen.

Shell-Urteil: Wendepunkt auch für deutsche Konzerne

Die Rechtbank (Bezirksgericht) Den Haag hat am 26. Mai 2021 in einer Entscheidung gegen die dort verwaltungsansässige Royal Dutch Shell (RDS) international erstmals ein Unternehmen verurteilt, die von ihm verantworteten CO2-Emissionen bis zu einem Zieldatum (31.12.2030) um einen bestimmten Prozentsatz (netto 45% im Vergleich zum Jahr 2019) zu reduzieren.

Die Bedeutung dieser zwar nur erstinstanzlichen Entscheidung aus den Niederlanden für die internationale Unternehmenspraxis kann kaum überschätzt werden, zumal die hier gerichtlich angeordnete „Sustainability Transformation“ eines Unternehmens durch parallel sich deutlich intensivierende Forderungen relevanter Interessenträger verstärkt wird. Wenngleich die Entscheidung auf niederländischem Deliktsrecht beruht, könnten die rechtlichen Feststellungen auch ins deutsche Deliktsrecht und auf andere Menschenrechts- und Umweltschutzbelange übertragen werden. Daher sollten auch deutsche Unternehmen diese Shell-Entscheidung sorgfältig analysieren und bei der Ausgestaltung ihrer Unternehmensstrategie sowie ihres operativen Geschäftsmodells und der Kommunikation hierüber berücksichtigen. Ansonsten drohen signifikante Klage-, Haftungs- und Reputationsrisiken und damit Werteinbußen.

Umweltverbände klagen

Zur konkreten Entscheidung: Auf Klage mehrerer Umweltverbände (insbesondere Vereniging Milieudefensie) sowie über 17000 niederländischer Bürger und in Verlängerung der sogenannten Urgenda-Entscheidung des niederländischen Obersten Gerichtshofs vom Dezember 2019, mit dem dieser feststellte, dass die bisherigen Maßnahmen des niederländischen Staates zur Verringerung von Treibhausgasen unzureichend seien, hat das Bezirksgericht Den Haag nun entschieden, dass RDS eine Verpflichtung zur Reduktion von CO2-Emissionen treffe.

Diese Verpflichtung umfasse das gesamte RDS-Energieportfolio und alle Emissionskategorien (Scope 1 bis Scope 3), also auch unter Einschluss der von Endverbrauchern ausgehenden Emissionen. Allerdings handele es sich nicht um eine Erfolgs-, sondern nur um eine – je nach Emissionskategorie abgestufte – Bemühensverpflichtung, der zufolge RDS frei sei, den Reduktionsweg unter Berücksichtigung ihrer bestehenden Verpflichtungen und anderer relevanter Umstände zu gestalten. Im Hinblick auf konzernfremde Dritte (z.B. Geschäftspartner und Endverbraucher) könne von RDS erwartet werden, dass sie angemessene Schritte zur Vermeidung des Risikoeintritts unternehme und ihren Einfluss nutze, um so weit wie möglich nachhaltige Beeinträchtigungen der Interessen der niederländischen Bevölkerung zu minimieren.

Diese Pflichten leitet das Gericht aus der Grundnorm des niederländischen Deliktsrechts (6.162 Ndl. ZivilGB) in seiner richterrechtlichen Fortentwicklung her, der zufolge nicht nur die Verletzung von Gesetzesnormen, sondern auch „ungeschriebener“ Sorgfaltspflichten zur Haftung führen kann. Zur Konturierung dieser Sorgfaltspflichten zieht es einerseits bestimmte völkerrechtliche „Soft Law“-Instrumente (z.B. UN Guiding Principles on Business and Human Rights oder OECD Guidelines for Multinational Enterprises) heran, anderseits aktuelle Erkenntnisse der Klimawissenschaft (z.B. Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change). Eine kumulative Kausalität von RDS für Klimarisiken reiche aus.

Berufung angekündigt

Die Anwendung niederländischen Rechts begründete das Gericht damit, dass RDS als Konzernobergesellschaft ihre Strategieentscheidungen in den Niederlanden treffe. Die vielfältigen Einwände von RDS, wonach die Begründung einer solchen Verpflichtung Sache der Politik sei, zu Wettbewerbsverzerrungen führe, die Teilnahme am European Emission Trading Scheme unberücksichtigt lasse oder in Bezug auf die globale Risikolage unverhältnismäßig sei, wies das Gericht ab.

Shell hat bereits Berufung gegen das Urteil des Bezirksgericht Den Haag angekündigt; eine jahrelange Verfahrensdauer bis zur Rechtskraft steht bevor. Zwei wichtige Punkte bleiben unterdessen auf Basis der erstinstanzlichen Entscheidung unklar: Die Begründung stützt sich einerseits ausschließlich auf die Interessen der und die Folgen für die niederländische Bevölkerung, anderseits soll die RDS-Pflichtenlage territorial unbeschränkt sein (RDS ist übrigens z.B. der größte Ölproduzent in Nigeria).

Das wird in den Niederlanden – und im Vereinigten Königreich (!) – übrigens als Rückschlag für den dortigen Holdingstandort gewertet. Ferner hat das Gericht das Urteil für vorläufig vollstreckbar erklärt, obwohl die Bemühenspflicht sich auf eine Zielerreichung per Ende 2030 bezieht.

Weitreichende Folgen

Die Bedeutung dieser Entscheidung für deutsche Unternehmen speist sich aus dreierlei: Erstens ist es nicht ausgeschlossen, dass auch deutsche Gerichte zu Paragraf 823 Absatz 1 BGB Verkehrssicherungspflichten für Unternehmen mit dem Inhalt entwickeln, bestimmte CO2-Reduktionen zum Schutz der deliktisch geschützten Rechte und Rechtsgüter anzustreben – zumal nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz vom 24. März 2021. Zur Konturierung der Verkehrssicherungspflichten könnten womöglich auch hier „Soft Law“-Instrumente herangezogen werden.

Zweitens sind die Feststellungen – insbesondere nach Inkrafttreten des sogenannten Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) – ggf. übertragbar auf andere Umweltschutz- und Menschenrechtsbelange. Der erst mit der „Formulierungshilfe“ zum LkSG vom 27. Mai 2021 eingeführte Paragraf 3 Absatz 3, dem zufolge „eine Verletzung der Pflichten aus diesem Gesetz keine zivilrechtliche Haftung [begründet]“, stünde einer Haftung nach diesen allgemeinen deliktsrechtlichen Regeln jedenfalls nicht entgegen – wie Satz 2 dieses Absatzes ausdrücklich festschreibt („Eine unabhängig von diesem Gesetz begründete zivilrechtliche Haftung bleibt unberührt“).

Drittens und besonders wichtig ist die Prognose, dass diese Entscheidung unabhängig von ihrer Rechtskraft und zweifelhaften Übertragbarkeit auf das deutsche Recht einen „normativen Wendepunkt“ darstellt, mit dem Geschäftsleiter unter dem Gesichtspunkt ihrer Schadensabwendungspflicht aufgefordert sind, Strategie und operatives Geschäftsmodell unter dem Gesichtspunkt einer „Sustainability Transformation“ ganzheitlich zu überprüfen.

Das wiederum wird Folgewirkungen haben zum Beispiel auf die Wahl der Netzwerkpartner und die dortigen Rechtsbeziehungen, Investitionen und M&A-Aktivitäten, die Finanzierung, Bestimmung steuerungsrelevanter Leistungsparameter und die Rechnungslegung (Stichwort: „Stranded Assets“, also Vermögenswerte, deren Ertragskraft oder Marktwert zum Beispiel aufgrund umweltbezogener Umstände drastisch sinken), das erweiterte Risikomanagement und die Informationssysteme, die Führungskräftevergütung sowie die ESG-Berichterstattung und Stakeholder-Kommunikation. Nur ein holistischer Ansatz der „Sustainability Transformation“ sichert nachhaltig Geschäftschancen, Unternehmenswert sowie -reputation und minimiert umgekehrt Risiken aus den voraussichtlich global stark steigenden „ESG-Klagen“.

In der Pflicht

Diese Pflichtenlage für Geschäftsleiter wird verstärkt durch Forderungen auf einen Nachhaltigkeitsumbau von Investoren und Fremdkapitalgebern, aber auch von erfolgskritischen Geschäftspartnern (wie Kunden und Versicherern) und mit diversen Motivlagen von sonstigen relevanten Interessenträgern (wie Nichtregierungsorganisationen). So verkündete der ExxonMobil-CEO genau am Tag des Shell-Urteils das Ergebnis eines monatelangen Proxy Fights vor allem um die dortige Board-Besetzung: Mit Unterstützung von BlackRock und dem New York Common Retirement Fund gingen zwei (von zwölf) Board-Sitzen an Kandidaten des einen Strategieumbau fordernden Fonds Engine No. 1; das Management wurde weiter zur Offenlegung ihrer Lobbytätigkeiten verpflichtet und inwieweit diese der Umsetzung des Pariser Klimaschutzübereinkommens entgegenstehen könnten.

Sustainability Transformation muss wie Digitalisierung zentrales Strategieziel vieler Unternehmen sein. Proaktives Handeln der Ge­schäftsleiter ist Rechtspflicht, auch zur Minimierung von Risiken aus ESG-Klagen. Das Shell-Urteil macht das augenscheinlich.