„Unsere Märkte folgen Megatrends“
Herr Hartel, warum begnügt sich Wacker nicht mehr mit einem Umsatzwachstum von 4 bis 5 % wie im Durchschnitt der vergangenen Jahre? Jetzt sollen es 6 bis 10 % sein.
Der Hauptgrund dafür ist die hohe Nachfrage unserer Kunden. Wir beschleunigen daher den Ausbau unserer Kapazitäten, vor allem in der Biotechnologie und im Chemiegeschäft.
In welchen Segmenten erwarten Sie die größten Wachstumschancen?
Der Baubereich spielt hier eine große Rolle, aber auch die Autoindustrie – gerade mit der Elektromobilität. Unsere Silikone bedienen eine Vielzahl von Marktsegmenten. Über dem Ganzen steht das Thema Nachhaltigkeit. Produkte, die den Kunden helfen, nachhaltiger zu werden, sind stark gefragt. Mittlerweile sind das zwei Drittel unseres Angebots und Teil unseres Geschäftsmodells. Das beschleunigt unser Wachstum.
Ihr Ziel für die Ebitda-Marge klingt nicht so ambitioniert wie das angepeilte Umsatzwachstum: 2030 sollen es mehr als 20% sein. Im vergangenen Jahr waren es allerdings 24,8%. Für dieses Jahr erwarten Sie trotz erheblich höherer Preise für Rohstoffe und Energie immerhin 17 bis 21%.
2021 war ein herausragendes Jahr, das Ergebnis getrieben von dem starken Preisanstieg für Polysilizium. Für die vergangenen Jahre hatten wir für die Chemiebereiche ein Ziel von 16%. Da sind 20% durchaus ambitioniert. Zudem haben wir erstmals als neues Ziel öffentlich gemacht, dass wir in der Chemie unsere Kapitalkosten mehr als zweimal verdienen wollen.
Wie liegt Wacker damit im Vergleich zu Konkurrenten?
Damit liegen wir gut in der Branche. Das Ziel ist anspruchsvoll.
Für die Ebitda-Marge ist offenbar nicht mehr viel Luft nach oben. Reizt Wacker die Effizienz aus?
Nein, unsere Effizienzprogramme setzen wir fort. Wir haben zum Beispiel Cost-Roadmaps in allen Bereichen. Die sind für uns essenziell und ein Teil unserer Hausaufgaben.
Also scheint das Margenziel doch etwas vorsichtig kalkuliert zu sein. Das ist typisch für Wacker Chemie, oder?
Der Kapitalmarkt sieht uns als konservatives Unternehmen. Aber unsere Ziele sind anspruchsvoll und können sich sehen lassen. Das ist eine Weiterentwicklung. Wir trauen uns etwas zu.
Die Zeit bis 2030 ist recht lang. Die meisten Unternehmen stecken sich Vorgaben für fünf Jahre. Warum nehmen Sie sich fast ein ganzes Jahrzehnt vor?
Es ist wichtig für den Markt, aber auch für die Mitarbeiter eine langfristige Vision aufzuzeigen: Wo wollen wir hin und woran glauben wir? Dazu gehört das Ziel, bis 2030 die CO2-Emissionen von Wacker um die Hälfte zu reduzieren.
Basis Ihrer Wachstumsstrategie ist ja die hohe Nachfrage, vor allem in den Chemiesparten. Bleibt das auf Dauer so, gibt es keine Konjunkturzyklen mehr?
Doch, vor solchen Zyklen sind wir nicht gefeit. Davon kann sich kein Unternehmen abkoppeln. Wir müssen jeden Tag für eine hohe Nachfrage arbeiten. Zugute kommen uns ein breites Produktportfolio für die Industrie, innovative Produkte, die Nähe zu unseren Kunden mit 23 technischen Kompetenzzentren in der Welt und eine enge Zusammenarbeit mit den Kunden, um etwa gemeinsam schnell Produkte zu entwickeln.
Trotzdem muss man aber sagen, dass die Nachfrage schwankt?
Ja, aber unsere Märkte wachsen. Der langfristige Trend ist intakt. Unsere Märkte folgen Megatrends wie der Digitalisierung, der Urbanisierung und dem Thema Nachhaltigkeit, etwa mit erneuerbaren Energien.
Allerdings wird die Planbarkeit immer schwieriger. Das zeigen die Pandemie und ihre Folgen, Engpässe in den Lieferketten und geopolitische Risiken wie ein seit langem nicht mehr für möglich gehaltener Krieg in Europa.
Niemand kann natürlich voraussehen, was in Sachen Pandemie oder im Ukraine-Krieg im nächsten halben Jahr passieren wird. Aber wir haben eine sehr gute Ausgangsposition. Resilienz ist entscheidend, um die eher zunehmende Volatilität auffangen zu können.
Wie groß ist die Widerstandskraft von Wacker Chemie?
Finanziell haben wir viel erreicht, sind im Prinzip schuldenfrei, haben eine hohe Liquidität und eine starke Bilanz. Zweitens haben wir eine starke Mannschaft mit Kompetenzen in allen wichtigen Regionen. Und drittens haben wir ein breites Produktportfolio und mehrere Segmente. Das hilft bei Schwankungen in einzelnen Bereichen.
Und wie sieht es mit der Resilienz des Bezugs von Rohstoffen und Energie aus? Stichwort: Russland.
Die Abhängigkeit von Russland für Öl und Gas trifft auch uns. Ein Embargo hätte deutliche Auswirkungen auch für Wacker. Wir schauen, wie wir darauf reagieren könnten und welche Alternativen wir haben. Lange wurden die Folgen dieser Abhängigkeit für unsere gesamte Wirtschaft unterschätzt.
Zurück zu den Wachstumszielen: Der Eindruck entsteht, dass Sie Wacker stärker als Ihre Vorgänger am Kapitalmarkt und den Interessen von Investoren ausrichten?
Wichtig ist, dass wir unsere Potenziale auf die Straße bringen. Wenn man Gutes tut, kann man auch darüber reden. Mir ist Kommunikation mit dem Kapitalmarkt wichtig. Im vergangenen Jahr haben wir Investoren und Analysten gefragt, welches Bild sie von Wacker haben.
Kam es so zur Präsentation der Wachstumsziele?
Nein, das haben wir hier im Führungskreis erarbeitet. Wir haben die Ziele unserer Leverage-Phase erreicht, in der nach hohen Investitionen von 2013 an die Investitionen unter den Abschreibungen lagen. Nach der Konsolidierung investieren wir jetzt wieder mehr.
Der Aktienkurs von Wacker schwankt mit der Konjunktur. Den Höchststand von knapp 200 Euro Anfang 2008 hat er bisher nicht mehr erreicht. Halten Sie es für möglich, dieses Muster zu durchbrechen?
Ich bin davon überzeugt, dass unsere Wachstumsstrategie erfolgreich sein wird und sich das auch im Aktienkurs niederschlägt. In den vergangenen Jahren gab es eine starke Korrelation des Kurses mit den Preisen von Polysilizium für die Solarindustrie. Die Chancen unseres Chemiegeschäfts verkannte der Markt.
Also geht es mit dem Aktienkurs weiter parallel zum Preis von Polysilizium auf und ab?
Wir machen in diesem Geschäft einen Schwenk zu viel mehr Polysilizium für die Halbleiterindustrie. Damit können wir etwas Volatilität herausnehmen. Hier wollen wir in den nächsten Jahren weiter wachsen. Schon jetzt basiert fast jeder zweite Computerchip, der produziert wird, auf hochreinem Polysilizium von Wacker.
Wacker soll nicht nur aus eigener Kraft wachsen, sondern auch mit Zukäufen. An was denken Sie?
Wir wollen bei Akquisitionen mutig in die Zukunft gehen, aber nicht übermütig. So etwas muss sich immer rechnen. Die größten Möglichkeiten gibt es in unserem kleinsten Segment Biosolutions.
Weil hier die kartellrechtlichen Hürden nicht so hoch wären?
Ja. Im Segment Polymere sind wir Marktführer mit einer starken Position. Interessant wären hier allenfalls Akquisitionen zur Ergänzung. Und im Segment Silikone haben wir erst vor kurzem mit der Beteiligung an Sico in China eine strategische Lücke geschlossen. Asien bleibt hier die interessanteste Region für Zukäufe.
Das Interview führte Joachim Herr.