„Wir wollen keine Firma für Blattgemüse sein“
Stefan Paravicini.
Herr Visconti, wie würden Sie den Unterschied zwischen konventioneller Landwirtschaft und den Methoden des Vertical Farming erklären?
Vertical Farming ist im Grundsatz wie konventionelle Landwirtschaft, allerdings auf vertikal gestapelter Fläche und unter kontrollierten Bedingungen. Es geht im Kern darum, Platz und Ressourcen möglichst effizient zu nutzen. Dafür kommt bei Infarm viel Technologie zum Einsatz. Unsere Benchmark ist die konventionelle Landwirtschaft. Wir wollen sowohl in finanzieller Hinsicht als auch mit Blick auf die ökologischen Folgen besser als die Benchmark sein.
Anbau unter kontrollierten Bedingungen klingt nach Gewächshaus. Das hat unter ökologischen Gesichtspunkten nicht immer den besten Ruf, richtig?
Der Anbau in kontrollierter Umgebung hat nicht erst mit Vertical Farming angefangen. Vor allem die Niederländer und die Italiener machen das mit Gewächshäusern schon seit Ewigkeiten. Der Unterschied ist, dass wir für Vertical Farming Technologie nutzen, um eine optimale Umgebung für die Pflanzen zu reproduzieren und dabei so wenig Ressourcen wie möglich zu verbrauchen. Unsere Module kann man sich wie Umweltmaschinen vorstellen, die ein künstliches Klima produzieren mit LED-Licht statt Sonne, künstlicher Umluft statt Wind und Wasser statt Erde als das Medium, in dem die Pflanze gedeiht. Mit Hilfe von Technologie reproduzieren wir die natürlichen Bedingungen, damit die Pflanze wachsen kann, benötigen aber 95% weniger Wasser und Boden als konventionelle Landwirtschaft und setzen keine chemischen Pestizide ein.
Gibt es weitere Vorteile gegenüber der konventionellen Landwirtschaft?
Der Einsatz der Technologie ermöglicht uns, genau die richtigen Bedingungen zu finden, um den optimalen Ertrag mit möglichst geringem Einsatz von Ressourcen zu erreichen. Das geht in der traditionellen Landwirtschaft nicht. Landwirte gehen aufs Feld, nehmen eine Stichprobe und entscheiden dann vor allem auf Basis von Erfahrung, ob geerntet werden soll. Wir können unsere Produkte dagegen gestützt auf Daten immer besser machen. Denn je mehr wir anbauen, desto mehr verstehen wir über die Pflanze. Hier sieht man die Macht der Technologie und die Bedeutung von Daten.
Welche Rolle spielen Daten für Vertical Farming?
Ich habe mich in meinem früheren Leben als Investment Banker bei UBS um den europäischen Technologiesektor gekümmert. Dabei ging es immer um Unternehmen und ihre Daten. Das Problem ist häufig, dass die meisten Unternehmen nicht wissen, was sie mit ihren Daten anfangen sollen. In der vertikalen Landwirtschaft sind Daten entscheidend. Denn nur auf Grundlage von Daten können wir zum Beispiel lernen, dass der Schnittlauch zwanzig Minuten weniger Licht benötigt, dass es am besten ist, ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt am Tag zu ernten und dass die Pflanze für den optimalen Ertrag nicht vier Wochen wachsen sollte, sondern genau drei Wochen und fünf Tage. Auf Basis von Daten können wir ein in allen Belangen überlegenes Produkt machen und gegenüber der konventionellen Landwirtschaft den Verbrauch an Wasser, Boden sowie den Einsatz von Chemie minimieren.
Auch die konventionelle Landwirtschaft wird immer datenintensiver, und andere Vertical-Farming-Ventures nutzen ähnliche Technologie. Was unterscheidet Infarm im Wettbewerb?
Alles was ich bisher gesagt habe, werden 99% der Agri-Tech-Unternehmen ebenfalls von sich sagen. Was Infarm differenziert, ist die Modularität unserer Anlagen. Wir bauen keine gigantischen Hubs im Nirgendwo. Unsere Module benötigen eine Grundfläche von 40 Quadratmetern, haben also etwa die Größe von einem Wohnzimmer. Das ist in unserem Markt einzigartig und ermöglicht uns eine größere Flexibilität. Wir können neue Technologie schneller integrieren und damit schneller wachsen.
Wie machen das die Wettbewerber von Infarm?
Ich nenne sie nicht Wettbewerber sondern Peers, denn wir sind alle mit der gleichen Mission unterwegs. Unsere Peers stellen große Pflanzenfabriken in der Größe eines Einkaufszentrums auf, die mit einer hohen Komplexität verbunden sind. Man muss also mit einer sehr herausfordernden Umgebung klarkommen, in der alles kontrolliert wird. Die Temperatur im oberen linken Eck so einer fünfzig Meter hohen Pflanzenfabrik sollte genau gleich sein wie die Temperatur auf der Ecke rechts unten, die etwa einen halben Kilometer entfernt ist.
Ist eine kontrollierte Umgebung für Vertical Farming in den kleineren Modulen von Infarm weniger fehleranfällig herzustellen?
Wir machen natürlich ebenfalls Fehler, wir sind schließlich ein Start-up und nutzen neue Technologie, die es so vorher nicht gegeben hat. Aber wir machen unsere Fehler auf der Ebene eines Moduls. Das bedeutet, dass wir die Technologie viel leichter und iterativ anpassen können. Umgekehrt gilt das Gleiche. In dem Moment, in dem wir mit einem Modul etwas lernen oder einen Durchbruch schaffen, können wir diesen Erfolg schnell über das gesamte Netzwerk unserer Module skalieren. Das ermöglicht es uns, schnell zu wachsen, ohne schwerfällig zu werden. Wir brauchen nicht 250 Mill. Dollar für eine neue Anlage. Uns reicht ein begrenztes Investment von 10 Mill. bis 20 Mill. Dollar und in sechs Wochen sind wir startklar. Der entscheidende Unterschied zu unseren Wettbewerbern ist die Modularität unserer Technologie.
Was baut Infarm in diesen Vertical-Farming-Modulen an?
Das ist ein weiteres Differenzierungsmerkmal. Viele Peers konzentrieren sich auf eine Kategorie oder eine Pflanze. Das ist gut so und ich wünsche allen viel Erfolg, denn das ist auf jeden Fall ein besseres Produkt und besser für den Planeten als die konventionelle Landwirtschaft. Aber wir wollen da nicht stehen bleiben. Infarm will keine Firma allein für Blattgemüse sein. Wir wollen den gesamten Obst- und Gemüsekorb anbauen, auch wenn wir erst am Beginn unserer Reise sind. Doch dafür braucht man eine phänomenale Abteilung für Forschung & Entwicklung, die Crème de la Crème der Agrartechniker, Biologen und Softwarespezialisten. Top-Wissenschaftler, die in der Lage sind, mit Hilfe von Technologie für jede Pflanze die geeignete Mikro-Umgebung zu kreieren und die richtige Rezeptur zu finden, damit sie gedeihen. Das ist das Geheimnis von Infarm. Das schafft man nur mit großartiger Technologie und mit großartigen Talenten.
Wie groß ist die Forschungsabteilung von Infarm?
In unserer R&D-Abteilung sind rund 120 Mitarbeiter beschäftigt. Das ist eine Forschungsabteilung mit einer sehr ernst zu nehmenden Größenordnung und einer der wesentlichen Gründe, warum wir bei Investoren sehr erfolgreich sind.
Gutes Stichwort: Infarm hat im Dezember rund 200 Mill. Dollar bei Investoren unter Führung von Qatar Investment Authority aufgenommen und dabei eine Bewertung von mehr als 1 Mrd. Dollar erzielt. Reicht das für mehr als Blattgemüse?
Die Kapitalerhöhung reicht aus, um den Plan auszuführen, den wir mit unseren Investoren verabredet haben. Können wir damit in den Anbau von Gemüse und Obst einsteigen? Die Antwort ist nein. Wir benötigen mehr Kapital, wenn wir unserem Mission Statement weiter folgen wollen – und das werden wir. Das Kapital, das wir bisher aufgenommen haben, passt zu dem Punkt im Business Plan, an dem wir jetzt stehen, mit Aktivitäten in Europa, Nordamerika und Asien und in mehr als 50 Städten sowie einem Auftragsvolumen von 300 Mill. Dollar, in das wir hineinwachsen wollen. Das ist großartig, aber das ist erst der Anfang.
Wie geht es auf der Finanzierungsseite weiter?
Wir haben den Proof of Concept erbracht und können jetzt den nächsten Schritt machen. Aber wenn man an diesem Punkt angelangt ist, muss man vor der nächsten Kapitalerhöhung neu abwägen. Wir gehen davon aus, dass die Firma auch mit Blick auf ihre Profitabilität bald interessant genug sein wird, dass wir Eigenkapital und Fremdkapital kombinieren können.
Die nächste Runde wird also auch eine Fremdkapital-Komponente enthalten?
Es hängt alles davon ab, was genau wir als Nächstes machen wollen. Aber wir werden uns das ganze Spektrum der Möglichkeiten anschauen, sei es Eigenkapital aus einem Börsengang, Private Capital oder eine Wandelanleihe, sei es Fremdkapital in Form von Private Debt, Special Debt oder auch Infrastructure Debt.
Lässt sich bereits absehen, wann es Bedarf für eine weitere Kapitalaufnahme geben wird?
Vertical Farming ist ein kapitalhungriges Geschäft. Wann wir weiteres Kapital aufnehmen, hängt letztlich aber von unserer Fähigkeit ab, neue Kunden zu gewinnen. Ich kann also nicht sagen, wann das sein wird. Aber es wird sicher weitere Kapitalaufnahmen geben, weil wir sicher auch weitere Kunden gewinnen werden. Das Auftragsvolumen wird bald 400 Mill. Dollar erreichen, und zur gegebenen Zeit werden wir auch wieder Kapital aufnehmen.
Mit der Qatar Investment Authority (QIA) hat Infarm einen Investor an Bord, den man in Deutschland vor allem mit Blue Chips wie Deutsche Bank, Volkswagen und Siemens in Verbindung bringt. Wie passt die QIA zu Vertical Farming?
QIA ist ein sehr erfolgreicher Investor im Nachhaltigkeitsbereich und insbesondere im Agrifood-Sektor. Für uns war aber auch das besondere Interesse der QIA an den Themen Lebensmittelproduktion, Lebensmittelqualität und Lebensmittelsicherheit sehr wichtig. Das Thema ist ja für die gesamte Region des Mittleren Osten und Nordafrikas von großer Bedeutung. Wir sprechen hier also von einem sehr erfahrenen Investor rund um Nachhaltigkeitsthemen mit einer Reihe exzellenter Unternehmen wie Infarm im Portfolio. Darüber hinaus gibt es aber auch eine strategische Komponente mit Blick auf die Region und wie sie über die Zukunft nachdenkt.
Infarm beliefert mehr als 1850 Standorte von 30 großen Lebensmittelhändlern in elf Ländern. Gibt es auch Kunden außerhalb des Lebensmitteleinzelhandels?
Wir haben viele Pläne, etwa mit der Gastronomie und auch mit ganz anderen Branchen. Aber wir sind derzeit noch so beschäftigt mit dem Lebensmitteleinzelhandel und ehrlich gesagt auch voll ausgelastet mit unseren Bestandskunden, weshalb wir uns aktuell nicht mit neuen Kundensegmenten beschäftigen. Wir haben noch eine lange Runway in unserem Bestandsgeschäft. Allein mit unseren Bestandskunden und mit unserem derzeitigen Angebot von rund 75 Pflanzen sprechen wir von einer Marktchance in der Größenordnung von 7 Mrd. Dollar. Wir haben jetzt ein Auftragsvolumen von 300 Mill. Dollar.
Hat Infarm für 2022 Pläne für den Einstieg in neue Ländermärkte?
Bis 2030 wollen wir in 20 Ländern aktiv sein. In den nächsten zwei bis drei Jahren wird das Wachstum aber vor allem aus den Märkten kommen, in denen wir schon heute präsent sind.
Wie funktioniert das Geschäft, womit verdient Infarm Geld?
Wir stellen den Lebensmittelhändlern unsere Produkte vor. Wir glauben, dass wir das bessere Produkt als die bestehenden Lieferanten anbieten, weil wir nicht nur die besseren Pflanzen haben, sondern auch lokal produzieren. Wenn der Händler mit dem Preis zufrieden ist, unterzeichnen wir einen Vertrag, der die Quantität festlegt. Sagen wir zwei Millionen Salate, zweieinhalb Millionen Basilikumpflanzen und eine halbe Million Schnittlauch. Dann kalkulieren wir die Zahl der Farming-Module die wir für den Auftrag konfigurieren müssen und stellen die Anlagen vor Ort auf oder nutzen unsere bestehenden Infarm Growing Centres. Nach der ersten Ernte beginnt die Auslieferung der im Vertrag vereinbarten Menge. Das ist es, was der Kunde kauft. Wenn wir an den Händler geliefert haben, obliegt der Abverkauf unserem Kunden.
Liegt ein Schnittlauch aus einer Vertical-Farming-Anlage eigentlich neben anderem Schnittlauch, wenn er bei Kunden wie Edeka, Aldi Süd oder Rewe angeboten wird?
Unsere Produkte sind Infarm-Branded, denn wir wollen auch eine Marke aufbauen.
Warum ist das für Infarm von Bedeutung?
Wenn ich Sie frage, welche Marke Sie aus der Kategorie Frischwaren kennen, werden Sie wahrscheinlich nur eine bekannte Bananenmarke nennen können. Wir wollen das ändern und Infarm zu einem neuen Standard machen.
Welche Größenordnung hat das Geschäft heute und wie schnell soll es wachsen?
Ein guter Ausgangspunkt sind die 300 Mill. Dollar Auftragsvolumen. Das Auftragsvolumen ist noch nicht signifikant im Vergleich zur bestehenden Marktchance, es abzuarbeiten ist für uns aber dennoch eine signifikante Herausforderung. Dafür werden wir vielleicht drei bis vier Jahre benötigen. Wenn wir dabei ein jährliches Wachstum von mehr als 100% schaffen, sind wir zufrieden.
Das Interview führte