Worst-Case-Szenario in Wolfsburg
Von Stefan Kroneck, München
Keine Frage, die Transformation der deutschen Autoindustrie zur Elektromobilität verlangt den Unternehmen und ihren Beschäftigten einiges ab. Bisherige Produktionsstrukturen erweisen sich als überholt, da E-Autos weniger Komponenten benötigen als Fahrzeuge mit herkömmlichen Verbrennungsmotoren. Folglich wird künftig in der automatisierten Fertigung noch weniger Personal gebraucht als ohnehin schon. Der Coronaschock und die Lieferengpässe bei Halbleiterbauteilen verstärken den Druck auf die Konzernführungen, den strukturellen Wandel zu beschleunigen.
Folglich sind weitere Tausende Arbeitsplätze gefährdet. Die zurückliegenden Stellenstreichungen bei Zulieferern und den Autoherstellern bieten einen Vorgeschmack darauf, was dem bedeutendsten Wirtschaftszweig in der Bundesrepublik noch bevorstehen könnte. Das nahende Ende von Benziner und Diesel in den Industriestaaten lässt weitere Einschnitte erwarten.
Vor diesem Hintergrund ist die kontroverse Diskussion bei Volkswagen über die Zukunft des Stammwerks Wolfsburg am Konzernhauptsitz symptomatisch für die gesamte Branche. Vorstandschef Herbert Diess ist ein Manager klarer Worte. Wie nun durchsickerte, soll er den Aufsichtsrat mit einem Worst-Case-Szenario konfrontiert haben. Und das kurz vor der Entscheidung über den neuen mittelfristigen Investitionsplan. 30000 Arbeitsplätze bei VW Pkw ständen auf dem Spiel. Das betreffe jede vierte Stelle in der Kernmarke, heißt es. Für den einflussreichen Konzern-Betriebsrat, für die mächtigen Eigentümerfamilien Porsche und Piëch sowie für das Land Niedersachsen, welches 20% der Anteile hält, sind das unschöne Botschaften des CEO, dessen Vertrag das Gremium erst vor kurzem verlängert hatte. Doch es herrscht dringender Handlungsbedarf: Die Fertigungskapazitäten sind derzeit zu gering ausgelastet. Der Chipmangel hat diese Schwäche verschärft. Die Fixkosten sind im Vergleich zu Wettbewerbern wie Tesla zu hoch. Der Bau neuer E-Modelle im Stammwerk kann das Problem mindern, aber womöglich nicht dauerhaft lösen. Diess setzt ein Thema auf die Agenda, welches bereits seit längerem bekannt ist. Seit Jahren doktert VW daran herum, eine Lösung fand sich bislang nicht.
Markt reagiert mit Kursplus
Ob altbewährte Mittel greifen, ist offen. Bisher beschränkten sich die Hersteller bei Stellenstreichungen unter anderem auf Altersteilzeit und Abfindungen. Kündigungen sind nach wie vor tabu. Denn BMW, Daimler und VW gaben Beschäftigungsgarantien für die kommenden Jahre ab. Daran sind sie gebunden.
Vielleicht kommt es aber nicht so schlimm wie befürchtet. Zwar nimmt der Personalbedarf in der Fertigung tendenziell ab, aber es bilden sich neue Berufsfelder in der Autoindustrie, wenn man z. B. die wachsende Sensortechnik in Betracht zieht. Alternativen bieten die Umschulung und die Weiterqualifikation von Mitarbeitern. Darauf wies der frühere SAP-Chef Henning Kagermann hin. In seiner heutigen Rolle als Chef der Regierungskommission zur Zukunft der Mobilität ist er optimistisch, dass der klimaneutrale Umbau des Verkehrs unter dem Strich mehr Arbeitsplätze schafft als vernichtet. „Per saldo glaube ich, dass wir am Ende sogar mehr Jobs haben“, sagte Kagermann in Hamburg bei der Präsentation des Abschlussberichts der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität.
Entscheidend ist also, ob und wie die Autoindustrie die Herausforderungen schlussendlich meistert. Es handelt sich um eine Branche, die genug Erfahrungen besitzt, um den Transformationsprozess zu bewerkstelligen. Es ist damit auch eine Frage des Vertrauens in die eigenen Kräfte. Dass VW das Potenzial hat, dies zu schaffen, daran haben wohl die Anleger keine Zweifel. Nach einem Bericht im „Handelsblatt“ über das Dax-Schwergewicht gewann die Stammaktie am Mittwoch im Xetra-Handel zeitweise 4,4% an Wert. Der Titel des Großaktionärs Porsche Automobil Holding SE legte in der Spitze um 4,5% zu.