Atomkraft und Gas untergraben Glaubwürdigkeit
Allein in den ersten drei Quartalen 2021 sind weltweit über 500 Mrd. Dollar in „nachhaltig“ deklarierte Fonds geflossen. Allerdings gibt es bisher zu wenig verlässliche Standards, so dass Greenwashing an der Tagesordnung ist. Zu diesem Ergebnis kam auch eine Untersuchung von Finanzwende Recherche, die zeigt: In der Summe wird „nachhaltiges“ Kapital heute gar nicht so anders angelegt als konventionelles.
Weil das Thema am Markt aber immer relevanter wird und gleichzeitig viel Schindluder mit grünem Marketing getrieben wird, ist die neue europäische Klassifizierung nachhaltiger Wirtschaftsaktivitäten, die Taxonomie, von großer Bedeutung. Nachhaltig sollte nur noch da draufstehen, wo es auch drinsteckt. Grüne Fonds müssen künftig angeben, welcher Anteil ihrer Investitionen im Einklang mit der Taxonomie steht.
Große Unternehmen müssen offenlegen, zu welchem Teil ihr Geschäft der neuen Klassifizierung entspricht. Bereits im Oktober hat die EU-Kommission die ersten Detailregeln vorgelegt für Aktivitäten, die einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Diese wurden Anfang Dezember von den Co-Gesetzgebern bestätigt. Offen blieb bis dahin die Einstufung von Atomkraft und fossilem Gas. Dazu hat die Kommission am Silvesterabend Vorschläge gemacht.
Demnach sollen beide Formen der Energieerzeugung übergangsweise als nachhaltig gelten, wenn sie Bedingungen erfüllen. Mit diesem Vorschlag ist die Kommission vor einigen Mitgliedstaaten eingeknickt und hat die ursprünglich geplanten, wissenschaftsbasierten Kriterien nationalen Interessen geopfert.
Natürlich sind weder Atomkraft noch fossiles Gas ökologisch nachhaltig. Atomkraft produziert gefährlichen radioaktiven Müll, und Erdgas heizt die Klimakrise an. Aber darum soll es hier gar nicht gehen. Denn die Kommission macht mit den Vorschlägen den Fehler, hinter bestehende privatwirtschaftliche und öffentliche Standards für nachhaltige Geldanlagen zurückzufallen. Damit wird der neue Standard unglaubwürdig, denn die erwünschte Vereinheitlichung durch einen europäischen Standard könnte womöglich nicht eintreten.
Im Widerspruch zur Praxis
So schließt das im deutschsprachigen Raum verbreitete Siegel des Forums Nachhaltige Geldanlagen (FNG) Investitionen in Atomkraft aus. Der entsprechende europäische Dachverband hat sich gegen die grüne Einstufung von Atomkraft und Gas ausgesprochen, ebenso wie die Initiative für nachhaltiges Investment (PRI) der Vereinten Nationen. Auch die internationale Climate Bonds Initiative führt in ihrem Standard weder Atomkraft noch Gas.
Nicht nur privatwirtschaftliche, sondern auch existierende öffentliche Standards sind schon jetzt ambitionierter als die Vorschläge der Kommission. Das französische Label Greenfin schließt Formen der Energieerzeugung aus, die dem nachhaltigen Umbau der Wirtschaft im Wege stehen oder kontrovers sind. Konkret heißt das: Fossile Energien und Atomkraft müssen draußen bleiben. Auch das österreichische Umweltzeichen, das nachhaltige Fonds, Anleihen oder Girokonten auszeichnet, schließt Atomkraft und fossile Energieträger aus.
Während die vor Kurzem veröffentlichte russische Taxonomie Atomkraft als nachhaltig einstuft, hat sie einen sehr strengen Grenzwert für Gas, was einem Quasiausschluss gleichkommt. Damit hat Russland sich bezüglich Gas an die strengen und wissenschaftsbasierten Vorschläge der EU-Expertengruppe für die Taxonomie angelehnt. Vor diesem Hintergrund will die EU-Kommission ernsthaft Atomkraft und fossiles Gas mit einem Nachhaltigkeitssiegel versehen?
Zwar sind die bereits beschlossenen Kriterien zu den Klimazielen überwiegend positiv. Doch durch die Einbeziehung von Atom und Gas droht die europäische Klassifizierung aus Finanzmarktsicht am Ende keinen großen Mehrwert zu bieten. Das wird deutlich beim Blick auf die verschiedenen Standards, die bereits heute beim Thema Atomkraft und fossile Energien ambitionierter sind als das, was die Kommission nun vorgeschlagen hat.
So wird Europa kein Leitmarkt
Dass es privatwirtschaftlichen Standards manchmal an Biss fehlt, weil die Akteure auch immer ihre Geschäftsinteressen im Blick haben, ist zumindest nachvollziehbar. Dass aber ein öffentlicher Standard schon verwässert ist, wenn er das Licht der Welt erblickt, entzieht sich jeder Logik. Damit wird die Taxonomie kaum zu einem international anerkannten Standard und Europa nicht zum Leitmarkt für nachhaltiges Investieren. Auch wenn die anderen Bereiche der Taxonomie als neue Messlatte einen positiven Einfluss haben könnten, würde das Gesamtwerk erheblichen Schaden nehmen.
Die Vorschläge der Kommission untergraben zudem den europäischen Green Deal und den angestrebten nachhaltigen Umbau der Wirtschaft, wenn die neuen Kriterien nachhaltiges Geld am Ende weiter in umwelt- und klimaschädliche Aktivitäten lenken würden. So wird das mit dem Kampf gegen Greenwashing schwierig. Anlegerinnen und Anleger, denen Nachhaltigkeit tatsächlich am Herzen liegt, werden sich so kaum nach der europäischen Definition richten, sondern lieber anderen, wenigstens etwas ambitionierteren Standards treu bleiben. Die europäische Klassifizierung hätte damit ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Laut einer von Finanzwende Recherche beauftragten repräsentativen Umfrage finden 82% der Deutschen, dass Atomkraft keine nachhaltige Investition ist. Dies zeigt: Viele Menschen werden der Taxonomie wohl nicht über den Weg trauen. Einziger Lichtblick ist, dass Anleger jenseits der blinden Flecken bei Atomkraft und Gas mit der Taxonomie eine Handhabe haben gegen grüne Fonds, die mehr Nachhaltigkeit versprechen, als sie halten können.
Angesichts nationaler Interessenstreitigkeiten hat die EU-Kommission das eigentliche Ziel der Taxonomie aus den Augen verloren: ein Standard für Nachhaltigkeit, der wissenschaftsbasiert Wirtschaftsaktivitäten mit einem positiven Beitrag zu Klima- und Umweltschutz festlegt. Die von der Kommission präsentierten Vorschläge für Atomkraft und Gas könnten noch von EU-Ministerrat oder EU-Parlament abgelehnt werden, um die Glaubwürdigkeit der Taxonomie zu retten. Dafür wäre jedoch im Rat eine Zweidrittelmehrheit oder im Parlament eine einfache Mehrheit vonnöten, die derzeit nicht erreichbar scheinen.
Einziger Hoffnungsschimmer für eine ehrgeizige Taxonomie wäre dann die vorgesehene Überprüfung der Rechtsakte für Atomkraft und Gas nach drei Jahren. Dann gäbe es eine neue Chance, die Nachhaltigkeitsklassifizierung endlich scharfzustellen. Bis dahin wird das Wirrwarr verschiedener Standards und damit einhergehend mit Greenwashing wohl erst mal weitergehen.
Bisher erschienen:
Das Mining wird zwangsläufig immer grüner (20. Januar)
Die Komplexität der Regeln ist atemberaubend (19. Januar)
Ungewissheit in der Anlageberatung (18. Januar)