BaFin fordert Analyse von Klimarisiken
Von Antje Kullrich, Köln
Spätestens die Hochwasserkatastrophe an Ahr und Erft im Juli hat gezeigt: Die Klimakrise trifft bereits heute mit einiger Wucht das Geschäft der Assekuranz. Auf über 7 Mrd. Euro summieren sich bislang die geschätzten Versicherungsschäden. 2021 wird damit insgesamt zum teuersten Naturkatastrophen-Jahr für die Schaden-und Unfallversicherer.
Die BaFin wirft jetzt ein verschärftes Auge auf die Klimarisiken in den Bilanzen der Versicherungswirtschaft. Die Finanzaufsicht will künftig von der Branche deutlich mehr Infos bei den Unternehmen einholen, wie die Klimakrise sie tangiert. Die Auskünfte sollen fester Bestandteil der Solvency-II-Berichterstattung werden. „Wir erwarten, dass im nächsten Jahr alle ORSA-Berichte Aussagen zu den Auswirkungen des Klimawandels enthalten“, kündigte Frank Grund, BaFin-Exekutivdirektor für die Versicherungsaufsicht, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung an. Im Own Risk and Solvency Assessment (ORSA), die im dreiteiligen Aufsichtsregime Solvency II die zweite Säule bildet, beurteilen die Versicherer regelmäßig die unternehmenseigene Risikolage.
Bislang spielen die Klimarisiken in den ORSA-Berichten der Mehrheit der Versicherer keine Rolle. Aus den Auswertungen der Reporte des Jahres 2020 gehe hervor, dass sich ein gutes Drittel der Versicherer darin mit Nachhaltigkeitsrisiken auseinander gesetzt habe, „jedoch in den meisten Fällen noch nicht ausreichend genug“, konstatiert die BaFin. „Wir sehen noch Handlungsbedarf bei der Frage, mit welchen Klimaszenarien kalkuliert wird, wie zum Beispiel der Zeithorizont aussieht“, sagte Grund. Denn die langfristige Bewertung der Risiken ist schwierig. Hier entwickeln alle Unternehmen derzeit noch angemessene Stresstests.
Kapitalbedarf auf Prüfstand
Grundsätzlich konstatiert der oberste Versicherungsaufseher der Branche jedoch ein angemessenes Problembewusstsein. „Die deutschen Versicherer nehmen den Klimawandel sehr ernst.“ Das bestätige auch eine ganz aktuelle Umfrage der Aufsicht in der Branche. „Das Thema ist bei den meisten Unternehmen im Risikomanagement schon gut verortet.“ Die BaFin hat laut Grund auch untersucht, ob die von den Unternehmen im Rahmen der Flutkatastrophe geschätzten Worst-Case-Schäden die bestehenden Kapitalanforderungen übersteigen. „Das Naturkatastrophenrisiko war in der Regel realistisch bemessen“, erläuterte Grund. „Es gab allerdings einzelne Ausreißer, d.h. einzelne Versicherer mit sehr hoher Betroffenheit. Diese weisen ein stärker regional, in den betroffenen Risikogebieten konzentriertes Portfolio auf. Wir müssen noch genauer untersuchen, ob die Kapitalanforderungen auch für diese Unternehmen passend sind.“ Unter diese Ansage dürften vor allem die regional aufgestellten öffentlichen Versicherer fallen. So hat die Provinzial Holding, deren Geschäftsgebiet Nordrhein-Westfalen und Teile von Rheinland-Pfalz umfasst, bisher mehr als 1,1 Mrd. Euro gemeldete Schäden bilanziert.
Auch branchenweit will Aufseher Grund die Kapitalanforderungen für Naturkatastrophenrisiken in Zukunft immer wieder unter die Lupe nehmen. Denn sie müssten mit der erwarteten höheren Frequenz von schweren Ereignissen mit hohen Schäden Schritt halten. Es gebe einen Vorschlag der EU-Kommission, dass die europäische Aufsichtsbehörde EIOPA regelmäßig prüft, ob die Kalibrierung von Nat-Cat-Risiken in der Standardformel noch angemessen ist, sagte Grund. „Diesen Vorschlag unterstützen wir generell.“
An der intensiven Beschäftigung mit den eigenen Klimarisiken führt für die Versicherer 2022 kein Weg mehr vorbei. Sie lauern an mehreren Stellen in der Bilanz: Auf der Passivseite geht es darum, welche Preise und Beitragseinnahmen in verschiedenen Versicherungssparten nötig sind, um die durch den Klimawandel potenziell steigenden Verpflichtungen erfüllen zu können. Auf der Aktivseite der Bilanz enthalten die Kapitalanlagen, die vor allem bei Lebensversicherern häufig im Multimilliardenbereich liegen, Risiken im Zusammenhang mit dem Klimawandel.
Im kommenden Jahr sollen die Versicherer nach den Vorstellungen der Aufseher mindestens zwei Stresstests bzw. Szenarioanalysen durchrechnen: Nach der europäischen Aufsichtsbehörde soll das eine Szenario von einer Erderwärmung zwischen 1,5 und 2 Grad ausgehen, das andere von einem Temperaturanstieg von über 2 Grad. Genaue Vorgaben gibt es jedoch noch nicht.
Schwierige Modellierungen
Wie Klimastress als Szenario modelliert wird, damit die gewonnenen Daten den Aufsehern und Unternehmen nützliche Informationen liefern, ist eine schwierige Frage. „Auf Dauer sind für die Branche einheitliche Standards jedoch sinnvoll, weil sie einen klaren Rahmen und Vergleichbarkeit schaffen“, sagt Heike Schmitz, Partnerin bei Herbert Smith Freehills, die sich auf Nachhaltigkeitsthemen von Versicherern spezialisiert hat. Die Proportionalität müsse dabei aber im Blick behalten werden. Kleinere Versicherer verfügten nicht über die großen Datenbestände und Analysetools wie die Branchenführer, die sich mit dem Thema teilweise schon seit Jahrzehnten beschäftigen.
Schmitz plädiert sehr dafür, dass sich die nationalen Aufseher EU-weit abstimmen, mit welchen Stressszenarien sie operieren wollen. Diese sollten auch mit Praktikern aus den Unternehmen diskutiert und erprobt werden. Vorlagen für mögliche Klimastressszenarien gibt es ihrer Ansicht nach bereits genug. Das Rad müsse nicht von jeder nationalen Aufsicht neu erfunden werden.
Max Happacher, Vize-Vorstandschef der Deutschen Aktuarvereinigung, plädiert ebenfalls für einen einheitlichen Rahmen: „Wesentliche standardisierte Input-Parameter wie die Erderwärmung, die für alle gelten, sollten auch von allen in den Modellen einheitlich angewendet werden.“ Nur so könnte zum Beispiel die Politik Informationen bekommen, welche Auswirkungen ein bestimmter Temperaturanstieg auf die Branche haben dürfte. Die Detailtiefe der Vorgaben für die Stressszenarien sollte nach seiner Ansicht aber nicht zu weit gehen – die unternehmensindividuellen Unterschiede seien groß und die Klimaeffekte je nach Geschäftssegment auch ganz unterschiedlich ausgeprägt. So seien bei der Ernteausfallversicherung eher Dürren ein Risiko, die bei der Gebäudeversicherung keine Rolle spielten.
Für die Mehrheit der Branche werden Klimastresstests eine Premiere sein: Auf Nachhaltigkeitsrisiken bezogene Stresstests bzw. Szenarioanalysen führt nach Angaben der BaFin knapp ein Viertel der im laufenden Jahr befragten Versicherungsunternehmen und Pensionsfonds durch. Allerdings beschäftigt sich nur etwa jedes zehnte Unternehmen mit expliziten Klimawandelrisikoszenarien – zum Beispiel 1,5- oder 2-Grad-Szenarien der Erderwärmung.
Ganz allein wollen die Aufseher die Branche aber nicht lassen: Für eine mögliche Ausgestaltung der Klimastressszenarien wird auf die Arbeiten des Network for Greening the Financial System (NGFS) verwiesen. Derzeit feilt EIOPA auch an einer „Guidance on running climate change materiality assessment and using climate change scenarios in the ORSA“, die den Unternehmen konkrete Hilfestellungen zu individuellen Szenarien bieten soll.