Börsen-Chef malt ernüchterndes Bild vom Finanzplatz Deutschland
Für globale Unternehmen mit großer Marktkapitalisierung und mit Sitz außerhalb Deutschlands spielt der Deutsche Aktienindex (Dax) nach Einschätzung des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Börse, Theodor Weimer, „keine Rolle mehr“. Er forderte vor diesem Hintergrund alle Marktteilnehmer in Frankfurt zum engagierten Einsatz für den Kapitalmarkt und damit auch für den Finanzplatz auf.
Weimer räumte anlässlich der Jahresauftaktveranstaltung der Börse am Montagabend in Eschborn seine Enttäuschung über die Entscheidung des Gaseherstellers Linde ein, dessen Anteilseigner sich mit großer Mehrheit für ein Delisting in Frankfurt entschieden haben. „Wir haben die ganze Härte des Kapitalmarkts bei Linde erfahren“, erklärte Weimer. Der aktuell noch mit Abstand schwerste Wert im Dax habe große globale Ambitionen. Linde habe ausgerechnet, dass ein Dual Listing in Deutschland faktisch nur noch Nachteile bringe. „Das ist bitter, das tut weh.“
Weimer erinnerte daran, dass die Börse Versuche unternommen habe, Linde in Frankfurt zu halten. „Dass selbst eine Ausdehnung des Dax von 30 auf 40 Firmen das Problem nicht lösen konnte, tut doppelt weh.“ Zudem sei die von der Deutschen Börse angebotene Erhöhung der Kappungsgrenze des Dax von 10% auf 15% von den Investoren abgelehnt worden –„übrigens auch mit guten Argumenten“. In diesem Zusammenhang berichtete der Börsen-Chef, dass sich im Übrigen Linde selbst nicht für eine Erhöhung der Kappungsgrenze ausgesprochen habe. Weimer konstatierte, dass die Bewertung an den Börsen in den USA dank höherer Liquidität „einfach besser“ sei.
Hinzu komme, dass in Deutschland große Werte „nicht im Public Equity stecken, sondern im Private Equity“. Dabei wolle er gar nicht so sehr auf „die CVC und Permira dieser Welt“ anspielen, sondern auf die Familienunternehmen. „Jedes wertvolle Familienunternehmen, das nicht gelistet ist, fehlt im Dax“, unterstrich Weimer.
„Wir sind regelrecht abgehängt worden“
Im Hintertreffen sei der hiesige Finanzplatz auch mit Blick auf Vermögensverwaltung und Kreditwirtschaft. Von den zehn größten Assetmanagern der Welt kämen derzeit sieben aus den USA – unter den ersten zehn der Welt befinde sich als einziges deutsches Unternehmen die Allianz. Und im Banking werde „Europa nicht nur durchgereicht. Wir sind regelrecht abgehängt worden.“ Das hänge zum einen an der Fragmentierung der Märkte, zum anderen an einer Regulierung, die Weimer als „durchaus ideologisiert“ bezeichnete.
Deutschland falle relativ zu anderen Ländern im Wert aller gelisteten Firmen weiter zurück. Weltweit sei der Wert aller gelisteten Unternehmen in den vergangenen Jahren auf 130% des Sozialprodukts gestiegen, in Deutschland hingegen auf 59% der Wirtschaftskraft gefallen.
Vor dem Hintergrund dieser Bestandsaufnahme ermunterte Weimer zum engagierten Einsatz – sowohl institutionell als auch individuell: „Wir müssen für diesen Finanzplatz kämpfen.“ Ziel müsse sein, „dass die Leute die Finanzthemen deutlich besser verstehen.“
Im Einzelnen sprach sich der Börsen-Chef für einen verstärkten europäischen Aktionsplan aus, um dem Kapitalmarkt die Rolle zu geben, die er verdient. „Vollenden wir endlich, endlich, endlich die europäische Kapitalmarktunion, Sie ist für uns alle ein conditio sine qua non.“ Das jüngste Gesetzgebungspaket aus Brüssel dürfte, wenn es umgesetzt würde, dabei nach Ansicht von Weimer einige substanzielle Fortschritte bedeuten.
Ankündigungsweltmeister und Umsetzungszwerge
Ausdrücklich sprach sich Weimer für eine aktienbasierte Rente aus. „Bei der darf nicht gekleckert werden, wir müssen klotzen.“ Eine Aktienrente sei sinnvoll, da Unternehmen strukturell besser im profitablen Wachstum seien als Volkswirtschaften. Seit Jahren würde über eine Reform der Umlagefinanzierung diskutiert. „Aber wir sind Ankündigungsweltmeister und Umsetzungszwerge.“
Die Finanzierung von Innovationen und Investitionen mit Eigenkapital müsste erleichtert werden. Steuernachteile aus dem Aktienbesitz müssten konsequent beseitigt werden. Es müsse zugleich für institutionelle Investoren einfacher werden, ihre Aktienquote zu erhöhen, indem das Versicherungs-Rahmengesetz Solvency II entsprechend angepasst werde. Schließlich betonte der Börsen-Chef: „Wir können uns eine Fragmentierung der Handelsplätze in Europa nicht leisten – und auch eine Fragmentierung der Börsen nicht.“ Er beließ es aber an dieser Stelle bei der allgemeinen Andeutung.
Es gehe, so Weimer, aber eben nicht allein um Gesetze und Rechtsrahmen. Zugleich „müssen wir mehr über den Kapitalmarkt reden, über seine Funktionsweise und seine Bedeutung.“ In diesem Zusammenhang bekräftigte er noch einmal seine Forderung: „Wir müssen für den Kapitalmarkt kämpfen.“ Denn nur ein allgemein akzeptierter und von vielen Menschen verstandener Kapitalmarkt könne ein starker Kapitalmarkt werden.