Kapitalmarktkultur

„Für alle Megathemen braucht es diesen Kapitalmarkt“

Christoph Boschan, CEO der Wiener Börse, und Bernd Spalt, Vorstandsvorsitzender der Erste Group, halten eine Stärkung des Kapitalmarkts für unumgänglich.

„Für alle Megathemen braucht es diesen Kapitalmarkt“

Christopher Kalbhenn.

Herr Spalt, die Erste Group blickt auf eine mehr als 200-jährige Geschichte zurück. Vor welchem Hintergrund erfolgte die Gründung?

Die Erste Group ist aus der Ersten österreichischen Spar-Casse hervorgegangen, die im Jahr 1819 gegründet wurde. Der Gründungsauftrag war, auch den „kleinen Leuten“ die Möglichkeit zu verschaffen, Ersparnisse beiseitezulegen und Vermögen zu bilden. Unser Börsengang im Jahr 1997 war dann der Grundstein, diesen Auftrag auch in der Region Zentral- und Osteuropa umzusetzen. Ohne Börsengang wäre der erfolgreiche Wachstumskurs der Erste Group nicht möglich gewesen.

Herr Boschan, vor welchem Hintergrund wurde die Wiener Börse vor 250 Jahren gegründet?

Hintergrund der Börsengründung ist wie bei allen Börsengründungen ein Ordnungs- und Finanzierungsbedarf. Die Gründung erfolgte nach dem Siebenjährigen Krieg, der nicht nur physisch, sondern auch in den Staatsfinanzen der Habsburger Verheerungen angerichtet hat, und die Wiener Börse hat daher ihren Ursprung im Handel von Staatskredit, also von Anleihen.

Wann begann der Aktienhandel in Wien?

Boschan: Das Börsenwesen ist ein Ergebnis der Industrialisierung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Neue Industrien mit großem Kapitalbedarf entstehen, so dass einzelne Individuen, Banken oder Staaten diese Finanzierung allein nicht mehr stemmen können. Da reüssierte sie in ihrer eigentlichen Gestalt, in ihrer unglaublichen Größe. Natürlich war das auch immer Repräsentanz des sie umgebenden Wirtschaftsraums, und das Habsburger-Reich war sehr groß. Der Aktienhandel der Wiener Börse entstand Mitte des 19. Jahrhunderts. Die erste Aktie war die Österreichische Nationalbank im Jahr 1818. Die zwei ältesten Titel, die noch heute notieren und auf eine ununterbrochene Notierungshistorie von 150 Jahren zurückblicken können, sind die Porr und die Wienerberger, zwei sehr prominente Brands in Österreich und auch international.

Wir haben jetzt den Weltspartag. Welche Bedeutung hat der Weltspartag allgemein und für Sie im Besonderen?

Spalt: Der Weltspartag blickt auf eine sehr lange Geschichte zurück. Er wurde 1924 in Mailand von den weltweiten Vertretern der Sparkassen begründet und im Jahr darauf auch von uns zum ersten Mal begangen. Das ist etwas, das sehr im Kern unseres Geschäftsmodells liegt. Es ging ja darum, die Bevölkerung zu sensibilisieren, wie sie das wenige Geld, das den Menschen blieb, sicher und gewinnbringend zur Seite legen können. Ab Mitte der 1950er Jahre erlebte der Weltspartag seine Blütezeit. In den letzten Jahrzehnten wurde der Tag nicht mehr so ausgiebig gefeiert wie damals. Es hat aber eine Renaissance gegeben im Sinne von Wirtschafts- und Finanzerziehung in Österreich, wenngleich das Thema Sparen nicht mehr so erlebt und empfunden wurde wie in den Wirtschaftswunderjahren. In der Coronakrise hat Sparen aber wieder eine große Renaissance erlebt. Einerseits konnte mit den Lockdowns natürlich viel Geld gar nicht ausgegeben werden, aber in Zeiten, in denen alles unsicher ist, haben viele Menschen Sparen generell wieder als viel wichtiger empfunden. In einer Situation wie jetzt, wo wir aus einer Krise herauskommen, in der sehr viel angespart worden ist und in der gleichzeitig keine Zinsen offeriert werden können, ist der börsliche als auch der außerbörsliche Kapitalmarkt entscheidend dafür, dass man etwas Sinnvolles mit seinem Geld tun kann.

Wie ist es um die Kapitalmarktkultur in Österreich bestellt? Gibt es Ähnlichkeiten zu Deutschland, wo man nicht so affin ist, es aber in letzter Zeit wieder stärkeren Zuspruch für Aktien gab, insbesondere bei jungen Leuten?

Spalt: Es gibt ein paar Unterschiede, aber die Ähnlichkeiten überwiegen, nämlich in dem Sinn, dass der Kapitalmarkt immer noch nicht ausreichend verstanden wird. Daher freue ich mich sehr, dass unser Finanzminister kürzlich auf einer Konferenz zugesagt hat, ein Sicav-Gesetz umzusetzen. In Österreich war ja das ganze Thema für lange Zeit durchaus ideologisch und politisch geprägt. Es ist ein falsches Verständnis von Kapitalmarkt und Aktienmarkt entstanden, und er wurde mit bösem Spekulantentum gleichgesetzt. Das ist ein echtes Problem der finanziellen Bildung. Damit meine ich nicht nur die finanzielle Bildung in Schulen, sondern auf allen Ebenen, auch auf der Policy-Making-Seite. Unsere Policy Makers müssen genau verstehen, wie das funktioniert. Wir haben nämlich eine risikoaverse und ideologisch geprägte Kapitalmarktkultur in Österreich, die eine Beschränkung für unsere Volkswirtschaft darstellt. An der müssen wir alle arbeiten. Christoph Boschan und ich und auch viele andere versuchen, der Politik klarzumachen, dass ein starker Kapitalmarkt gut ist, weil er Wachstum und neue Chancen ermöglicht. Wir sind in einer Situation, in der sehr viel Cash angespart worden ist und gleichzeitig sehr viel Wachstum finanziert werden muss. Die regulatorischen Strukturen für Wagnisfondskapitalgesetze müssen geschaffen werden, damit private und institutionelle Anleger in das Wachstum in Österreich und in unserer Region investieren. Da wird mit dem Sicav-Gesetz ein erster richtiger Schritt gesetzt werden.

Sehen Sie als CEO der Wiener Börse positive Anzeichen?

Boschan: Es gibt durchaus positive Entwicklungen. Wir haben auf der Anlegerseite eine deutliche Wahrnehmung der Renditen und auch ein steigendes Bewusstsein dafür. Wir feiern in diesem Jahr auch 30 Jahre Bestehen des ATX. Wenn man auf den ATX Total Return schaut, haben diejenigen, die von Anfang an dabei sind, einen Ertrag von über 600%. Den Nachweis über die Sinnhaftigkeit von Kapitalanlage führt man über erfolgreiche Kapitalanlagen. Egal, welches große Megathema wir haben – Pensionsvorsorge, Covid Recovery, finanzielle Inklusion, Wohlstandsverteilung – für all diese Themen spielt der Kapitalmarkt eine ganz entscheidende Rolle. Das hat sich langsam, aber mittlerweile sichtbar in die politische Meinungsbildung vorgearbeitet. In Ihrem Heimatland haben wir es in fast allen Wahlprogrammen flächendeckend gehabt. Im hiesigen Regierungsprogramm sind vier Säulen formuliert: die Vermeidung des regulatorischen Gold Plating oder jeder Überregulierung über das europäische Maß hinaus, eine Finanzbildungsinitiative, eine Stärkung der zweiten und dritten Säule der Altersvorsorge und vor allem die Einführung einer Haltefrist, also einer Steuerfreiheit, wenn man Aktien über einen bestimmten Zeitraum hält. Das harrt leider der Umsetzung, aber es sind jüngst positive Signale erfolgt, dass Umsetzung kommt. Ich glaube, das ist genau der richtige Weg, denn nochmal: Für alle gesellschaftlichen Megathemen braucht es diesen Kapitalmarkt. Es gibt ja nur zwei Handlungsalternativen für den Staat. Er kann entweder mehr Kredit aufnehmen oder Steuern erhöhen, oder er aktiviert über solche Maßnahmen so viel wie möglich privates Kapital. Privates Kapital sollte zur Entlastung der öffentlichen Haushalte aktiviert werden.

Spalt: Ich hätte einen komplementären Vorschlag. Wir haben viele Diskussionen geführt und auch der Politik ausführlich beschrieben, was das Problem ist. Jetzt sollten wir es gemeinsam tun. Ich finde den bisherigen Fortschritt im Sinn von aktiver Gestaltung bisher enttäuschend. Ich glaube, es wären für alle Win-win-Lösungen, durch die Kräfte freigesetzt werden können.

Welche Rolle spielt das Megathema Klimawandel beziehungsweise die Bekämpfung der Erderwärmung?

Spalt: Die Klimatransformation ist eine zentrale Veränderung, nicht nur von der Wirtschaft. Sie wird auch eine Veränderung der Gesellschaft im Allgemeinen mit sich bringen. Das muss finanziert werden. Wir haben jetzt eine Steuerreform, aber was fehlt, sind Debatten darüber, wie die großen Investitionen finanziert werden sollen, und das geht eben nicht ohne Kapitalmarkt.

Boschan: Die gesellschaftlichen Herausforderungen, selbst solche der Pensionssicherung und der Covid Recovery, nehmen sich zwergenhaft aus im Vergleich zum großen zentralen Thema der Innovationsfinanzierung. Wir sind eine alternde Gesellschaft. Österreich ist in der komfortablen Situation, in der demografischen Entwicklung 10 bis 15 Jahre hinter Deutschland zu liegen. Der demografische GAU passiert in Deutschland wesentlich früher. Insofern werden wir eine Blaupause haben. Aber auch Österreich kriegt diesen demografischen Knick. Wachstum ist nur auf zwei Wegen möglich. Sie können entweder mehr arbeiten, aber das wird nicht passieren. Wir sind eine alternde Gesellschaft. Wir werden nie wieder mehr arbeiten, und die jungen Menschen erheben den Anspruch auf wenig explizite Arbeitszeit. Da bleibt nur noch ein Weg, nämlich Dinge anders zu machen. Das nennt man Innovation. Das sind die einzigen beiden Wege, auf denen man wachsen kann, und wenn man nicht mehr arbeiten will, dann müssen wir unseren Innovationskern erhalten. Innovationsfinanzierung ist nun mal Eigenkapitalfinanzierung. Sie ist dem Kredit nur beschränkt zugänglich. Unsere Innovationsfähigkeit als rohstoffarme Volkswirtschaft zu erhalten, ist das zentrale Kapitalmarktthema.

Wie gehen Sie mit dem Thema ESG um?

Spalt: ESG hat für eine Bank im Wesentlichen drei Ebenen. Die eine ist eine rein regulatorische Ebene im Sinn von: Ich muss compliant sein, ich muss Transparenz schaffen, ich muss Risikomanagement so aufsetzen, dass es Klimarisiken berücksichtigt, und ich muss meine Geschäftssteuerung darauf ausrichten. Die zweite Ebene ist mein eigener CO2-Fußabdruck. Ich muss Pläne vorlegen, wie ich selber klimaneutral werden kann. Die dritte und wichtigste Ebene betrifft unser Kerngeschäft: Wie unterstütze ich eine Transformation zu einer wünschenswerten Zukunft, zu einer grünen Zukunft, zu einer Erneuerbare-Energien-Zukunft? Das heißt: ein Umstellen des Kerngeschäfts für die Transformation. Das heißt aber nicht, dass wir alles abschalten, das nicht dunkelgrün ist. Der Punkt ist, dass wir uns überlegen müssen: Wie kommen Unternehmen dorthin, wo sie hinsollten. Da werden Banken eine extrem wichtige Rolle spielen, da sie diesen Wandel finanzieren und unterstützen können. Das sind die dicken Bretter, die wir hier bohren, abgesehen mal von all den Green Bonds, die nicht mehr wegzudenken sind. Unser Hauptthema ist: Wie kriegen wir unsere Wirtschaft, unsere Kernmärkte dorthin, dass sie sich in Richtung Sustainability weiterentwickeln?

Wie agiert die Wiener Börse?

Boschan: Natürlich sind wir als Unternehmen selbst betroffen. Wir bemühen uns um einen CO2-freien Betrieb. Wir sind Mitglied der Sustainable Stock Exchange Initiative, wir haben natürlich ein Green-Bond-Segment eingerichtet. Seit 15 Jahren berechnen wir einen Nachhaltigkeitsindex, den Vönix-Index. Das Thema ist für uns also alles andere als neu. Ich möchte allerdings provokant eines sagen, nämlich, dass der Kapitalmarkt auch vieler Orten im Munde derer geführt wird, die früher eigentlich Kapitalmarkt gar nicht haben wollten. Ich bin sehr überrascht über den Zug zum Thema Kapitalmarkt und natürlich sehr erfreut, dass das als Hebel erkannt wird. Ich würde aber dringend anraten, den Kapitalmarkt zunächst einmal zu entwickeln. Dann stehen da auch Hebel zur Verfügung. Ich würde es noch deutlicher sagen, und das gilt auch für Deutschland: Die EU-Taxonomie kommt so sicher wie das Amen in der Kirche. Volkswirtschaften mit entwickelten Kapitalmärkten werden das stärker für sich nutzen können. Sie werden sich schneller transformieren für die CO2-freie Zukunft, sie werden nachhaltiger transformieren und sie werden mit den höheren Wachstumsraten hineintransformieren. Wer in diesem Transformationsprozess, der begonnen hat und in Regelwerk gegossen wird, nicht mit einem entwickelten Kapitalmarkt dabei ist, bleibt zurück. Nochmal: Es ist Zeit zu handeln.

Es gab eine recht schwungvolle Entwicklung am IPO-Markt. Wie hat sich der Markt in Österreich entwickelt in diesem Jahr?

Boschan: Große Aktivitäten haben wir leider nicht gesehen in diesem Jahr. Im Zugangssegment gab es eine ganze Reihe von Börsenneuzugängen. Wir haben die eine oder andere Kapitalerhöhung gesehen, und wir haben einen Anleihen-Listing-Rekord in diesem Jahr mit über 5000 Anleihen und haben die Börse damit positioniert zwischen den alten Marktführern in diesem Bereich, also Dublin, Luxemburg und Frankfurt. Wir haben im MTF-Bereich sogar Frankfurt überholt in diesem Frühjahr.

Welche Bedeutung hat die mittel- und osteuropäische Region für Sie? Wie sind Sie in der Region aufgestellt?

Spalt: Der Kern unserer Strategie ist zusammengefasst, der führende Retail- und Commercial-Banking-Provider im östlichen Teil der Europäischen Union zu sein. Das haben wir seit unserem Börsengang 1997 so etabliert. Wir waren schon damals der Meinung, dass diese Region in den nächsten Jahren der Wachstumsmotor Europas sein wird – und das ist er auch. Wir werden auch in den nächsten zwanzig Jahren im CEE-Raum höhere Wachstumspfade als im Rest Europas sehen. Dabei ist zu betonen, dass diese Länder sehr unterschiedlich sind. Trotzdem haben sie alle eine eindeutige Wachstumsdynamik und auch einen enormen Nachholbedarf. Das hilft unserem Geschäftsmodell sehr. Wenn man Banking reduziert auf die Essenz, ist Banking im Wesentlichen „a leveraged play on local economies“. Das funktioniert sehr gut in Ländern, die diesen Wachstumspfad beschreiten können. Unser Gründungsauftrag, Wohlstand für die Region zu schaffen, greift in all diesen Ländern extrem gut. Das ist etwas Strategisches und Langfristiges.

Wie ist die Wiener Börse in der Region aufgestellt?

Boschan: Die Region ist ganz entscheidend für uns, wenn man unsere Kerngeschäftsfelder anschaut. Wir decken die ganze Region mit Indizes ab, konsolidieren die Daten von über zehn Märkten der Region in einem zentralen Daten-Feed und wir betreiben technisch weitere Börsen, natürlich die Tochter in Prag, aber auch die Börsen in Budapest, Ljubljana und Zagreb. Wir betreiben also fünf Märkte, nicht nur deren Handelssysteme, sondern auch eine Menge weitere IT-Dienst­leistungen. Also diese Verwurzelung in der Region ist unsere DNA. Wir tragen die Märkte außerdem dahin, wo die größte Zahlungsbereitschaft besteht, und das ist der Westen. Unsere großen Kunden sind eben eine J.P. Morgan, eine Citigroup, eine BNP, eine SocGen et cetera. Insofern bemühen wir uns sehr um diese Drehscheibenfunktion. Auch unsere Emittenten haben ein überproportionales Exposure in dieser Wachstumsregion, einer Region, die doppelt so hohe Wachstumsrate aufweist, wie wir sie im Westen sehen. Wer als Investor Exposure in diesem Bereich sucht, ist mit österreichischen Emittenten bestens bedient.

Würden Sie internationalen Anlegern also raten, über ein Engagement am österreichischen Aktienmarkt nachzudenken?

Boschan: Ich würde sie aufrufen, bei der Gestaltung des europäischen Portfolios diesen attraktiven Markt nicht zu übersehen, mit seiner vergleichsweise hohen Dividendenrendite von 3,5 bis 4%. Wer derzeit Value sucht mit einem diversifizierten Geschäftsmodell und einem außerordentlichen Track Record bei der Lieferung von Ertrag in Form von Dividenden, der ist in Österreich gut aufgehoben.

Spalt: Was bekannter werden muss, ist, dass man an der Wiener Börse in einen Hub Richtung Osteuropa mit diesen Wachstumstreibern investiert. Fast egal, in welchen Titel Sie investieren, Sie investieren nicht in die österreichische Wirtschaft allein, sondern gleichzeitig in die Wirtschaft Zentral- und Osteuropas mit ihrem starken Wachstum.

Das Interview führte

BZ+
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