Assekuranz

Versicherer müssen 2022 ihren ESG-Blick schärfen

Taxonomie, Vermittlerrichtlinie, Solvency II: Nachhaltigkeitsthemen durchziehen viele neue Regelwerke für die Assekuranz.

Versicherer müssen 2022 ihren ESG-Blick schärfen

Von Antje Kullrich, Köln

Im Jahr 2021 haben sich die deutschen Versicherer warmgelaufen, 2022 wird es ernst: Aufseher und Gesetzgeber stellen konkrete Anforderungen in Sachen Nachhaltigkeit. Es ist der Auftakt zu einem Langstreckenlauf. Doch schon der Start hat es in sich: Während das Thema ESG bislang von vielen Versicherern vor allem in den Kapitalanlagen verhandelt wurde, erstreckt es sich jetzt auf alle Bereiche des Geschäftsmodells einschließlich des Vertriebs.

Immerhin tritt die Branche nicht unvorbereitet zum ESG-Marathon an: Bereits Ende 2019 hat die deutsche Versicherungsaufsicht BaFin mit ihrem „Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken“ eine Art Trainingsplan auf fast 40 Seiten veröffentlicht.

Jetzt geht’s richtig los

Und jetzt geht es tatsächlich so richtig los: Die wohl größte neue Herausforderung 2022 für die Assekuranz stellt die Taxonomie-Verordnung der EU dar, die zum 1. Januar mit der Scharfschaltung ihrer ersten beiden Ziele Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel real zu existieren beginnt. Konkret bedeutet das zunächst einmal für die Anbieter von Lebensversicherungen und Al­tersvorsorgeprodukten, dass sie von jetzt an Auskunft darüber geben müssen, ob und in welchem Maße die Kapitalanlagen, in die die Versichertengelder fließen, taxonomiekonform sind. Auch die jährlichen Standmitteilungen, die an die Kunden versendet werden, müssen Aussagen zur Taxonomie enthalten. Das Problem: Es steht noch gar nicht fest, wie genau die Versicherer dabei vorgehen sollen. Die technischen Standards dazu werden erst zum 1. Januar 2023 scharf geschaltet – die Veröffentlichung hat sich immer weiter verzögert.

Es sei wie ein Schießen auf schwimmende Ziele, stöhnt der ESG-Beauftragte eines mittelgroßen Versicherers. In der Branche wird erwartet, dass viele Anbieter 2022 zu­nächst auf Nummer sicher gehen und mitteilen, sie hätten keine taxonomiekonformen Produkte. Zudem müssen sich die Lebensversicherer auf weitere Berichtspflichten für 2023 vorbereiten. Dann müssen sie in einem Bericht zum „Principle Ad­verse Impact on Sustainability Factors“ (kurz: PAI) Auskunft darüber geben, wie sich das, was sie tun, unter Nachhaltigkeitskriterien auf die Außenwelt auswirkt. Die Daten dafür werden schon 2022 gesammelt.

Auch Nichtlebensversicherer ha­ben 2022 zu tun und müssen Vorbereitungen treffen: Nahezu alle Anbieter in der Assekuranz bis auf die ganz kleinen müssen 2023 für ihr gesamtes Unternehmen offenlegen, wie viele ihrer Aktivitäten taxonomiefähig sind, und ein Jahr später dann, ob sie auch taxonomiekonform sind. Denn nicht alle Sparten fallen unter die Taxonomie-Verordnung – Rechtsschutz zum Beispiel gehört nicht dazu. Taxonomiefähig, weil sie einen positiven Beitrag zur Anpassung an den Klimawandel leisten können, sind beispielsweise Feuer- und Sachversicherungen, Kfz-Policen, See-, Luftfahrt- und Transportversicherungen.

Gewaltige Komplexität

Wer mit der Einstellung an die ESG-Regulatorik herangeht, nur die neuen Vorschriften abzuarbeiten und umzusetzen, dürfte mit der ge­waltigen Komplexität enorm hadern. Denn es ist tatsächlich kompliziert, das Richtlinien- und Verordnungs­dickicht zur Nachhaltigkeit zu durchblicken. Problematisch für die Versicherer ist zudem, dass die Regeln zeitlich nicht so aufeinander abgestimmt in Kraft treten, wie es eigentlich mal geplant war.

Ziel für die Unternehmen sollte deshalb sein, grundsätzlich eine Nachhaltigkeitsstrategie zu implementieren und das Thema im gesamten Geschäft fest zu verankern, fordern sowohl Berater als auch Aufseher. Um das zu schaffen, ist der Aufbau von Expertise notwendig. Heike Schmitz, auf die Versicherungsbranche fokussierte Nachhaltigkeitsexpertin und Partnerin bei Herbert Smith Freehills, sieht es deshalb kritisch, wenn Versicherer es externen Beratern auf Projektbasis überlassen, diese Themen für sie umzusetzen. „Dann wandert das Know-how nicht ins Unternehmen.“

Auch im Vertrieb wird Nachhaltigkeit künftig eine größere Rolle spielen. Nicht nur der Versicherungsverband GDV rechnet damit, dass der Markt für nachhaltige Versicherungsprodukte in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen wird. Ein Treiber dürfte die überarbeitete europäische Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD sein: Von August 2022 an müssen die Vermittler ihre Kunden fragen, welchen Wert sie auf ESG-Kriterien legen und welche Nachhaltigkeitsziele ihnen besonders wichtig sind. Für die Versicherer bedeutet das eine Menge Aufwand: Die Beratungsdokumentationen müssen neu konzipiert und angepasst, die Vertriebe geschult werden.

Doch es geht nicht nur um mehr Transparenz nach außen in Sachen Nachhaltigkeit. Die Versicherer müssen auch ihren Blick auf die Risiken schärfen, die mit dem Klimawandel einhergehen. Als Rahmenwerk hat die europäische Aufsichtsbehörde EIOPA im Dezember ein Drei-Jahres-Programm veröffentlicht, in dem sie die Stoßrichtung ihrer Aufsichtsvorhaben sowohl in Bezug auf Sustainable Finance als auch auf Nachhaltigkeitsrisiken beschreibt.

BaFin wird konkreter

Konkreter ist die deutsche Versicherungsaufsicht BaFin geworden. Exekutivdirektor Frank Grund hat Anforderungen an die Branche für das kommende Jahr klar formuliert. Das Thema wird in das Aufsichtsregime Solvency II integriert. „Spätestens 2022 müssen alle ORSA-Berichte Aussagen zum Klimawandelrisiko enthalten“, hat Grund in den vergangenen Wochen mehrfach nachdrücklich gefordert. In diesem Own Risk and Solvency Assessment (ORSA) müssen die Versicherer zu ihren individuellen Unternehmensrisiken Auskunft geben. Wer ein solches Klimawandelrisiko bei sich erkennt, soll dafür Stressszenarien rechnen. „Klimarisiken sind definitiv ein zentrales Thema für das Risikomanagement der Unternehmen – sowohl für die Aktiv- als auch für die Passivseite der Bilanz“, betont Grund.

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