„Britische Aktien attraktiv bewertet“
Andreas Hippin.
Herr Anand, der FTSE 100 ist im Vergleich zu anderen europäischen Indizes immer noch sehr niedrig bewertet. Geht die Party erst so richtig los oder geht sie schon wieder dem Ende zu?
Wenn man sich die Bewertungen britischer Aktien ansieht, muss man ganz klar zwischen dem Blick auf künftige Renditen und der Einschätzung der Entwicklung der Volkswirtschaft insgesamt trennen.
Warum ist das so?
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Wenn man sich ansieht, wo britische Unternehmen ihren Umsatz machen, ist die Korrelation zur Performance der britischen Volkswirtschaft nicht besonders stark. Sie wird mit zunehmender Marktkapitalisierung schwächer. Wenn man nun überlegt, welche Faktoren in den vergangenen Jahren die Wahrnehmung der Marktteilnehmer geprägt haben, waren das die volkswirtschaftliche Entwicklung und die politische Situation. Auch die Währung spiegelt das wider.
Wird sich das fortsetzen?
Mit Blick nach vorn muss ich betonen, dass die Bewertungen britischer Aktien auf mittel- und langfristige Sicht sowohl auf absoluter als auch auf relativer Basis attraktiv sind. Und ich gehe davon aus, dass wir generell in ein Investmentumfeld eintreten, in dem Bewertungen ein wesentlich besserer Indikator für künftige Renditen sein werden. Es wird anders sein als in der Zeit niedriger Zinsen und stets vorhandener Liquidität am Markt. Im bisherigen Umfeld waren Bewertungen fast schon ein „falscher Freund“.
Wie muss man das verstehen?
Was schon teuer war, wurde teurer. Was billig war, wurde noch billiger. „Billig“ wurde fast schon zu einem euphemistischen Ausdruck für „scheiternd“. So sahen das zumindest viele Leute. Wenn man die Entwicklung über viele Märkte und Zyklen hinweg betrachtet, ist die Bewertung ein wichtiger Input, wenn es darum geht, künftige Renditen abzuschätzen. Das stimmt mich wirklich zuversichtlich für britische Aktien.
Gibt es noch weitere Gründe?
Die lustlose Performance der Vergangenheit hat auch damit zu tun, aus welchen Branchen sich der FTSE 100 zusammensetzt. Es gibt zwar auch Firmen aus dem Verlagsgeschäft, Software und Capital-Light-Unternehmen, aber Banken, fossile Brennstoffe und Rohstoffe haben ein wesentlich größeres Gewicht. Diesen Branchen wurde am Markt keine Führungsrolle zugesprochen. Sie entsprachen nicht dem Muster, an dem sich das Sentiment orientierte.
Hat sich das geändert?
Ich denke, dass sich das grundlegend ändern wird. Einige der Branchen, die bislang die Nachzügler waren, werden im Zyklus eine Führungsrolle übernehmen. Banken sind dafür ein gutes Beispiel, vielleicht auch einige der qualitativ hochwertigeren Industrieunternehmen. Aber es gibt noch ein drittes Thema, das die Märkte in den kommenden Jahren definieren wird und bei dem Großbritannien besondere Chancen bietet.
Und das wäre?
Etablierte Unternehmen, die durch eine technologische Transformation gehen. Sie haben den Vorteil, bereits über eine etablierte Kundenbasis zu verfügen. Danach haben sie zudem ein wesentlich besseres Angebot und ein besseres Geschäftsmodell. Das liegt vor unserer Nase. Für mich geht es bei der Bewertung nicht darum, dass etwas aus absoluter Basis billig ist. Es geht um den Preis, den man bezahlt, und die Qualität des Assets, das man dafür bekommt. Da liegen die Chancen bei britischen Aktien.
Hat sich nach dem Ende der Regierung von Liz Truss etwas an der Stimmung geändert?
Es gibt ein Element der Stabilisierung, das sieht man an den Märkten. Es war nicht so sehr die Richtung, sondern das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Veränderungen, die im September bei einigen Investoren Besorgnis auslösten, was sich wiederum am Anleihen- und Devisenmarkt niederschlug. Plötzlich wurde gefragt, was eine solche nicht gegenfinanzierte Ausgabenpolitik tatsächlich bedeutet. Das führte zu Verwerfungen. Ein Umfeld, in dem die Zinsen langsam steigen, ist wesentlich einfacher zu managen.
Das Finanzstabilitätskomitee der Bank of England war 2019 noch davon ausgegangen, dass die Derivategeschäfte der Pensionsfonds kein Problem darstellen.
Das Problem, das man immer hat, wenn ein bestimmter Zustand wie die Nullzinspolitik über längere Zeit vorherrscht, ist, dass sich viele Menschen – Notenbanker, Investoren, Aufseher – nicht mehr vorstellen können, dass es auch anders sein kann. Meine Mutter hat japanische Aktien gemanagt – in einer Zeit, als der Markt so viel teurer war als heute.
Als Japan die Welt aufgekauft hat.
Genau. Damals drehten sich die Konversationen darum, ob für den japanischen Markt traditionelle oder ganz andere Bewertungsmodelle gelten.
Das ist wohl immer so.
Ja, man muss immer daran denken, dass es auch anders sein könnte. Wir sind dazu verpflichtet, auch Szenarien zu prüfen, denen wir vielleicht eine niedrige Wahrscheinlichkeit zuschreiben, die sich aber wesentlich auf die Märkte auswirken könnten.
Nun ist der FTSE 100 eher ein globaler Index. Was halten Sie von den britischen Unternehmen, die sich auf den Heimatmarkt konzentrieren?
Man muss zwar angesichts steigender Finanzierungskosten bei der Auswahl von Aktien noch viel genauer hinsehen. Aber wir sehen für diese Unternehmen wesentliche Chancen, insbesondere wenn sie sich an den heimischen Verbraucher wenden. Uns gefallen die Banken. Sie sind die Nutznießer des Zins- und Inflationsumfelds. Ansonsten haben wir in Großbritannien in vielen Branchen Jahre der Konsolidierung hinter uns. Unternehmen haben ihre Marktanteile ausgeweitet. Ihre Geschäftsmodelle wurden Stresstests unterzogen. Die Verbraucher verfügen über Ersparnisse auf vergleichsweise hohem Niveau. Es gibt eine aufgestaute Nachfrage. Der Arbeitsmarkt ist robust. Die Lohnentwicklung ist ziemlich gut. Das ist ein relativ gutes wirtschaftliches Umfeld.
Warum sind die Kurse dann nicht höher?
Was sich in den vergangenen Quartalen zum Gegenwind entwickelt hat, war die am Markt verbreitete Überzeugung, dass wir unvermeidlicherweise in eine Rezession steuern. Es ging gar nicht mehr darum, ob es so kommen wird oder nicht, sondern nur noch um die Frage, wie tief die Rezession sein würde. Das Szenario, dem nur eine geringe Wahrscheinlichkeit beigemessen wurde, war ein vergleichsweise gutes Nachfrageumfeld. Und am Ende zeigte sich die Wirtschaft robuster als vorhergesagt.
Die Banken profitieren auch von der Digitalisierung und der Schließung von Niederlassungen. Könnte sie demnächst eine Übergewinnsteuer treffen?
Wir sehen unter den Banken zunehmend Firmen, deren Führungen nicht nur einer anderen Alterskohorte angehören, sondern auch eine andere Führungskultur pflegen. Es wird ernsthaft über die Rolle von Banken in der Gesellschaft nachgedacht. Sie spielen eine wesentliche Rolle in der britischen Wirtschaft. Wir als Minderheitsaktionäre erwarten Dividenden von ihnen. Ich wäre überrascht, wenn ihnen eine Übergewinnsteuer auferlegt würde. Was könnte die Grundlage dafür sein?
Die Bank of England hat die Idee bereits abgewürgt, den Banken weniger Zinsen auf ihre Mindestreserven zu zahlen.
Als Investoren sehen wir uns natürlich die Renditechancen an. Es gibt aber noch einen wichtigen Punkt, wenn es um die Banken geht: Es hat weiter gehende Konsequenzen, wenn sie in den kommenden drei bis fünf Jahren die Möglichkeit haben sollten, höhere Gewinne zu erwirtschaften als im zurückliegenden Jahrzehnt. Denn am Ende spielen sie eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Wirtschaft insgesamt. Die Branche hat jahrzehntelang die Rolle eines Multiplikators gespielt. Das war zuletzt weniger so, weil sie sich um ihre Kapitalausstattung und die Neuentwicklung ihrer Geschäftsmodelle kümmern mussten.
Nun müssen Banker nicht mehr in Sack und Asche gehen? Das war ja seit 2008 üblich.
Ja, üblicherweise entstehen Gelegenheiten nicht unmittelbar nach einer Neubewertung einer Branche durch den Markt. Typischerweise entstehen sie nach einer gewissen Zeit, in der die Branche danach mehr oder weniger ignoriert wurde, in der man also nicht gerade negative Renditen erwartet, sondern eher indifferent darauf blickt, so wie auf Technologiewerte nach der Korrektur an der Nasdaq Anfang des Jahrtausends und nach dem Zusammenbruch des Neuen Marktes. Die Opportunitätskosten dafür, Microsoft nicht zu besitzen, waren ein Jahrzehnt lang ziemlich niedrig. In den vergangenen zehn Jahren waren die Opportunitätskosten dafür, Banken nicht zu besitzen, ziemlich niedrig. Daraus entsteht mit Blick nach vorn eine Gelegenheit.
Hat sich durch die jüngsten Fehlentwicklungen wie Silicon Valley Bank oder Credit Suisse an dieser Einschätzung irgendetwas geändert?
Die Turbulenzen bei den Banken haben ihren Ausgangspunkt in Problemen, die auf spezifische Geschäftsmodelle oder Organisationen zurückgehen. Dadurch entsteht zwar unvermeidlicherweise kurzfristig Volatilität. Es sollte am Ende aber zu einer robusteren Branche insgesamt führen.
Sind steigende Zinsen ein Problem?
Wir konzentrieren uns auf die Realwirtschaft. Bis zu einem gewissen Grad gibt es fast eine inverse Beziehung: Je stärker die Realwirtschaft, desto größer ist der Anreiz, die Zinsen nicht zu senken. Das könnte Gegenwind für die Assetpreise und Kapitalmärkte mit sich bringen. Aber für uns als aktive Anleger spielt der Durchschnitt eine wesentlich geringere Rolle. Wir sehen uns die Chancen innerhalb von Märkten an, nicht die Märkte insgesamt auf aggregierter Basis.
Gibt es einen historischen Vergleich?
Wir könnten in eine vergleichsweise lange Phase der Konsolidierung an den Märkten gehen. Dann wären die Märkte auf aggregierter Basis ziemlich richtungslos. Die Analogie wäre der US-Markt von 1975 bis 1982. Da gab es zahlreiche Wendepunkte, ohne dass der Markt insgesamt weit gekommen wäre. Aber wenn man sich die Zahl der Aktien ansieht, deren Kurs sich in dieser Zeit verdoppelt hat, gab es viele Chancen innerhalb des Marktes. In den vergangenen zehn Jahren gab es eine viel engere Beziehung zwischen allgemeiner Assetpreisinflation und dem, was in bestimmten Märkten passiert ist. Momentum war ein wichtiger Faktor. Das wird in den kommenden drei bis fünf Jahren nicht mehr so sein.
Das Interview führte