Die Kaufkraftparität stößt als Konzept an Grenzen
Von Stefan Hofrichter*)
Für viele Investoren dient das Konzept der Kaufkraftparität – englisch Purchasing Power Parity (PPP) – als wichtige Richtschnur zur Abschätzung künftiger langfristiger Wechselkursentwicklungen. Die PPP wird dabei berechnet als impliziter Wechselkurs, zu dem in unterschiedlichen Währungsräumen derselbe Korb an Gütern und Dienstleistungen zum gleichen Preis erworben werden kann. Das Konzept fußt somit auf der Idee der Arbitragefreiheit.
Dabei sei betont, dass sich das Konzept der PPP auf reale und nicht auf nominale Wechselkurse bezieht. Eine reale Aufwertung liegt immer dann vor, wenn letztlich mehr Fremdwährungseinheiten als zuvor zum Erwerb eines Warenkorbs aufgewendet werden müssen – etwa weil die heimische Inflation höher ist als die im Ausland oder weil der nominale Wechselkurs Stärke zeigt. Wichtig dabei: Über- bzw. Unterbewertungen des realen Wechselkurses gehen oft einher mit langfristigen Ab- bzw. Aufwertungen des nominalen Wechselkurses.
Wenige Überbewertungen
Auf Basis von PPP-Schätzungen der OECD wären per Ende Oktober 2022 fast alle wichtigen Währungen gegenüber dem Dollar deutlich unterbewertet: Euro und Yen um mehr als 45%, das britische Pfund um fast 25%. Die BRICS-Währungen lägen zwischen etwa 40% (chinesischer Renminbi) und 70% (indische Rupie) unter der PPP. Überbewertet wären nur wenige Währungen, etwa der Schweizer Franken mit ungefähr 10%.
Als erste grobe Indikation für Währungsfehlbewertungen ist das Konzept der Kaufkraftparität sicherlich hilfreich. Der Ansatz ist jedoch Grenzen unterworfen. So treffen nämlich die unterliegenden Annahmen für die Gültigkeit der PPP in der Realität nur eingeschränkt zu: Definitionsgemäß kann die PPP nur für handelbare Güter gelten, nicht aber für nicht-handelbare Güter wie Dienstleistungen. Weitere Gründe für dauerhafte Abweichungen des Wechselkurses von der PPP sind Handelsfriktionen, Transaktionskosten sowie Unterschiede in der Zusammensetzung von Warenkörben.
Neben diesen Schwachpunkten berücksichtigt die Kaufkraftparitätentheorie aber auch nicht unterschiedliche Entwicklungsstände von Ökonomien. Die 1964 entwickelte Balassa-Samuelson-Hypothese (BSH) schließt genau diese Lücke. In Grundzügen besagt sie: Im Bereich der handelbaren Güter ist in weniger entwickelten Ökonomien die Produktivität – gemessen am BIP pro Kopf – niedriger als im höher entwickelten Vergleichsland. Dies liegt etwa daran, dass in den Produktionsprozessen der erstgenannten Länder veraltete Technologien eingesetzt werden.
Im Dienstleistungsbereich hingegen ist die Produktivität in allen Ländern qua Annahme gleich. Das Lohnniveau in der gesamten Ökonomie orientiert sich nun an der Grenzproduktivität im Sektor der handelbaren Güter. Während die Preise für handelbare Güter auf den Weltmärkten bestimmt werden, bestimmt das heimische Lohnniveau die Dienstleistungspreise.
Strukturelle Unterbewertung
In Summe haben Länder mit niedrigerem Pro-Kopf-Einkommen somit ein vergleichsweise niedriges Preisniveau, ihre Währungen sind strukturell unterbewertet. Da sich die Produktivitätsnachteile im Laufe der Zeit aber graduell zurückbilden, sollten die Löhne und folglich auch die Preise hier strukturell stärker steigen und die Währungen im Zeitablauf real aufwerten. So weit die Theorie – die von einer Vielzahl von akademischen Studien und durch unsere eigenen Analysen empirisch belegt wird.
Wir haben die BSH daher auf eine Reihe von Währungen angewandt, mit dem Ziel, das jeweilige künftige langfristige reale Auf- bzw. Abwertungspotenzial gegenüber dem Dollar abzuschätzen. Dafür schätzten wir die Preisniveaus von Währungsräumen relativ zu den USA in Abhängigkeit vom jeweiligen BIP pro Kopf. Die Abweichung zwischen Beobachtungs- und Schätzwert definiert die anfängliche Über- bzw. Unterbewertung einer Währung. Unsere Analysen wie auch akademische Studien deuten darauf hin, dass nach einem Zeitraum von etwa zehn Jahren üblicherweise die Hälfte der ursprünglichen Fehlbewertung abgebaut ist.
Per Ende September 2022 ist für Euro und Yen bis zum Ende dieses Jahrzehnts eine reale Aufwertung gegenüber dem Dollar im Umfang von etwas über 10% zu erwarten – deutlich weniger als auf Basis der PPP. Das britische Pfund und der Schweizer Franken sollten gegenüber dem Greenback real in etwa stabil bleiben.
Renminbi-Talfahrt erwartet
Für einige Schwellenländer-Währungen wie den brasilianischen Real, die indische Rupie oder den südafrikanischen Rand erwarten wir ebenfalls moderate reale Aufwertungen. Bemerkenswerte Ausnahme ist eine zu erwartende reale Abwertung des chinesischen Renminbi um knapp 25%. Wie lässt sich dies in der Logik von Balassa-Samuelson erklären? Nun, zum einen durch eine potenziell niedrigere Inflationsrate als in den USA. Zum anderen könnte aber auch ein anhaltender Wachstumsgegenwind infolge des Platzens der chinesischen Immobilienblase für eine reale und nominale Abwertung sorgen. Unserer Erfahrung nach stehen in einem derartigen Umfeld gerade Währungen von Schwellenmärkten strukturell unter Druck.
Für langfristige Währungsaussagen liefert die Balassa-Samuelson-Hypothese also eine gut fundierte Indikation. Interessanterweise fällt die Überbewertung des Dollar am aktuellen Rand zum Teil wohl deutlich geringer aus als auf Basis der reinen Kaufkraftparitätentheorie.
*) Stefan Hofrichter ist Head of Global Economics & Strategy bei Allianz Global Investors.