Benjamin Melman

„Die Situation ist fragil“

Nach Meinung von Benjamin Melman sollten Anleger bei Risiko-Assets derzeit vorsichtig sein. Der CIO von Edmond de Rothschild sieht in der Inflation und verspäteten Reaktion der Notenbanken ein Risiko.

„Die Situation ist fragil“

Christopher Kalbhenn.

Herr Melman, durch die hohe Inflation baut sich zunehmend Druck auf die Europäische Zentralbank auf, schneller die Zügel anzuziehen. Was erwarten Sie von der Notenbank?

Die EZB sieht sich mit einer hochkomplexen Lage konfrontiert. Die Inflation steigt und es gibt sogar Anzeichen für ein Ansteigen der Inflationserwartungen, was beunruhigend ist. Andererseits gibt es den Krieg in der Ukraine. Es ist zwar nicht unser Hauptszenario, aber es könnte zu einer Rezession kommen. Wir können das derzeit nicht ausschließen. Die EZB hat es somit mit einer sich stark verändernden Situation zu tun. Sie wird bemüht sein, sich Optionalitäten zu bewahren, um zu sehen, wie sich die Lage weiterentwickelt.

Was könnte sie Ihrer Einschätzung nach konkret tun?

Zunächst kommt das Tapering, die Reduzierung der Anleihekäufe. Das sollte im dritten Quartal abgeschlossen sein, anschließend sollte eine Zinsanhebung folgen. Den Erklärungen der Notenbank ist zu entnehmen, dass es zunächst darum geht, den Negativzins loszuwerden, den Zins auf null zu bringen. Eine Zinserhöhung dürfte gegen Ende 2022, vielleicht auch Anfang 2023 erfolgen. Die Hauptfrage ist, wie sich der Krieg entwickelt, der sehr negative Auswirkungen auf Europa hat.

Werden die Anleihezinsen weiter steigen? Welches Niveau erwarten Sie für das Jahresende?

Auch wenn es jetzt, wo die Märkte aggressivere Zentralbanken einpreisen, nicht mehr so einfach ist, dürften die Anleihezinsen weiter steigen, solange es Druck auf die EZB gibt, die Anleihekäufe zu reduzieren. Das bringt Aufwärtsdruck auf die Realzinsen. Wir arbeiten nicht mit konkreten Renditezielen, aber die Richtung scheint klar zu sein.

Wie beurteilen Sie die Inflationsaussichten?

Hier muss man zwischen den USA und Europa unterscheiden. Die Fed hat erkannt, dass der Arbeitsmarkt zu eng ist. Zudem ist die Produktionslücke positiv. In Europa sind wir noch nicht so weit. Die Arbeitslosenraten sind niedrig. Haben wir ebenfalls schon Vollbeschäftigung? Das kann sein, aber es gibt noch keine Anzeichen, dass sich das Lohnwachstum beschleunigt. Wir müssen noch mehr Daten abwarten, um beurteilen zu können, ob es zu einem beschleunigten Lohnwachstum kommt. Die Lohndynamik wird eine große Rolle in der Inflationsentwicklung spielen, aber die Lage in Europa ist noch nicht ganz klar. Wenn sie sich verstärkt, müssen wir unsere Inflationsprognose anpassen.

Die Aktienmärkte haben sich von dem ersten Schock des Krieges wieder erholt. Sind sie vielleicht zu optimistisch?

Wir sind von der Resilienz der Aktienmärkte etwas überrascht. Es ist zwar eine gute Nachricht für die Anleger. Man sollte sich aber nicht zu sehr in Sicherheit wiegen. Die Inflation ist ein Risiko. Wir wissen, dass die Fed die Zügel weiter anziehen wird, aber nicht, ob sie genug tun wird, um die Inflation in den Griff zu bekommen. In Europa wird es zunehmend zum Thema, wie die stark gestiegenen vorläufigen Inflationsdaten vom März zeigen. Die Notenbanken sind, was die Inflationsbekämpfung betrifft, hinter der Kurve. Wir denken, dass all dies zu einem bestimmten Zeitpunkt Volatilität auslösen könnte. Die Situation ist fragil. Die Zentralbankenliquidität war für die Finanzmärkte in den zurückliegenden Quartalen sehr wichtig. Die quantitative Straffung durch die Fed könnte im Mai beginnen. Das letzte Mal, als die Fed gegen Ende 2017 Anleihekäufe reduziert hat, hatte das einen sehr negativen Einfluss auf die Märkte, es folgte ein Crash im vierten Quartal 2018. Daher sollte man derzeit vorsichtig sein. Die Zentralbanken wissen noch nicht, wie sich die Märkte verhalten werden, wenn sie die Liquidität reduzieren. Die einzigen Erfahrungen, die wir haben, sind nicht positiv.

Sind Sie somit für Aktien skeptisch eingestellt?

Wir sind nicht bearish, denn das Wachstum bleibt stark. Aber man muss unter den aktuellen Voraussetzungen vorsichtig sein, weil die Reaktion der Märkte auf die hohe Inflation bislang verhalten war, der Kampf gegen die Inflation aber gerade erst begonnen hat. Wir raten daher zur Vorsicht bei Risiko-Assets, solange der Kampf gegen die Inflation nicht gewonnen ist.

Der Konsens für die Unternehmensgewinne dieses Jahres befindet sich immer noch auf seinem Niveau vom Jahresbeginn. Ist er unter den gegebenen Umständen überhaupt noch haltbar?

Wir gehen davon aus, dass die Konsensprognosen für die Gewinne je Aktie nach unten revidiert werden. Geschehen wird dies durch vorsichtige Ausblicke der Unternehmen, weil die Margen durch steigende Input-Kosten aufgrund der Rohstoff-Hausse und höhere Transportkosten unter Druck stehen. Sollten auch noch die Löhne stärker steigen, würde das den Druck verstärken. Nach unserer Einschätzung wird der Konsens für das Wachstum der Gewinne je Aktie auf null sinken.

Was bedeutet das für die Bewertungslage?

Wenn die Gewinnerwartungen sinken und gleichzeitig die Zinsen steigen, sinkt die relative Attraktivität von Aktien, während die relative Attraktivität von Anleihen sich verbessert.

Welche Anleihesegmente würden Sie derzeit empfehlen?

Wir halten kurzfristigen Credit, z.B. Hochzinsanleihen mit kurzer Laufzeit für interessant. Hier sind die Credit Spreads relativ hoch. Wir sind hier bereit, etwas mehr Marktrisiko einzugehen. Zwar ist mit mehr Volatilität zu rechnen. Aber man erhält bereits etwas Ertrag. Außerdem schauen wir uns Schwellenländeranleihen an, denn hier sind die Renditen signifikant gestiegen. Wir werden dort wieder investieren, halten uns aktuell aber noch zurück, denn Emerging-Market-Anleihen sind für negatives Risikosentiment und eine die Zügel anziehende Fed sensibel. Kurzlaufende Schwellenländeranleihen sind aber bereits ein gutes Investment.

Welche Folgen für die Märkte hätte eine Wiederwahl von Emmanuel Macron zum französischen Präsidenten?

Das wird keine größeren Auswirkungen auf die Märkte haben, weil die Politik dieselbe bleiben wird. Der Markt hat in den Staatsanleihen auch keine nennenswerte Prämie auf Wahl aufgebaut. Für die politischen Folgen wird entscheidend sein, mit welcher Koalition er nach den Parlamentswahlen im Juni arbeiten kann.

Das Interview führte

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.