„Erholung eine Bärenmarkt-Rally“
Christopher Kalbhenn.
Herr Streich, der Aktienmarkt hat sich zuletzt deutlich erholt. Erwarten Sie für die nächste Zeit deutliche weitere Kursavancen?
Nach unserer Einschätzung handelt es sich bei der Erholung um eine Bärenmarkt-Rally und nicht um eine echte Trendwende. Denn es schweben noch so viele Unsicherheiten über dem Markt, darunter nicht zuletzt die geldpolitische Wende unter Führung der Fed mit höheren Leitzinsen und dem anstehenden Fed-Bilanzsummenabbau.
Welche Folgen hat das für den Aktienmarkt?
Es bedeutet einen Liquiditätsentzug. Die Notenbanken haben über einen langen Zeitraum Anleihen gekauft und fangen nun an, sie in den Markt zurückzugeben und damit Kapital abzusaugen. Zuvor hat es insbesondere in den USA Hilfspakete ohne Ende gegeben. Wir hatten eine enorme Überschussliquidität an den Märkten, die ihresgleichen suchte. Die Folge war eine Asset-Preis-Inflation, da sich die Anlageobjekte nicht gleichzeitig in diesem Ausmaß vermehren konnten. Die Preise sind teilweise über das fundamental angebrachte Niveau hinaus angestiegen. In den USA hatten wir zu Beginn der Pandemie eine Überschussliquidität von über 80%, d.h. das Geldmengenwachstum hat das Wirtschaftswachstum um mehr als 80% übertroffen. Mittlerweile liegt die Überschussliquidität noch bei 6,7%, in Europa lediglich bei 2,5%. Würden die Notenbanken über eine neutrale Geldpolitik hinausschießen, könnte das sogar zu einer Unterversorgung der Wirtschaft mit Liquidität führen.
Die Geldpolitik ist aber nicht der einzige Unsicherheitsfaktor für die Märkte. Welche weiteren würden Sie hervorheben?
Das größte Damoklesschwert, das über der Wirtschaft und damit dem Aktienmarkt hängt, ist, dass der Gashahn zugedreht werden könnte. In Deutschland haben wir die höchste Abhängigkeit von russischem Gas. BASF hat erklärt, den Betrieb einstellen zu müssen, wenn Deutschland nur noch 50% der derzeitigen Gaszufuhren erhalten würde.
Wie sehen die Aktienmarktbewertungen auf den gedrückten Kursniveaus aus?
Bei Dax-Ständen unter 14000 Punkten kann man die Bewertungen als durchaus günstig ansehen. Der Abschlag auf das neutrale Indexniveau liegt gemäß unserem Bewertungsmodell dort bei rund 15%. Gleichzeitig liegt aber der amerikanische Aktienmarkt noch über dem neutralen Indexniveau. Es gibt also eine gewisse Bewertungsspreizung. Zwar ist ein höheres KGV in den USA grundsätzlich angebracht, weil die Profitabilität höher ist als in Europa. Aber angesichts der Gesamtlage ist das KGV in den USA schon recht hoch. Hinzu kommt, dass die relative Attraktivität von Aktien zu Anleihen in den USA längst nicht so hoch ist wie in Europa. Im April ist die Gewinnrendite des S&P 500 abzüglich der Rendite zehnjähriger Treasuries auf 230 Basispunkte und damit massiv unter das Niveau gesunken, das Anleger für das höhere Risiko von Aktien im Durchschnitt einfordern. Es folgte die deutliche Abwärtsbewegung des US-Aktienmarkts, wodurch die Differenz temporär wieder auf 320 Basispunkte stieg. Jener Wert entspricht dem Niveau, das Anleger historisch mindestens eingefordert haben. Inzwischen liegt der Aufschlag allerdings bereits wieder deutlich unterhalb der Marke von 300 Basispunkten.
Was bedeutet die hohe Inflation für die Aktienmärkte?
Das ist ein weiterer Punkt, der uns nicht gefällt. Die sogenannte „Rule of Twenty“ besagt, dass das KGV nicht höher als 20 abzüglich der Inflationsrate sein soll. Wir haben auf Basis der historischen Daten von Wirtschaftsnobelpreisträger Robert J. Shiller überprüft, wie hoch das KGV in den USA in der Vergangenheit war, wenn die Inflationsraten bestimmte Höhen hatten. Bei Inflationsraten im Intervall von 6 bis 10% lag es im Mittel seit 1872 bei 11,8. Aktuell ist der S&P 500 hingegen mit einem KGV zwischen 17 und 18 bewertet. Und dies sogar auf Basis der 12-Monats-Forward-Gewinne, welche in aller Regel höher ausfallen als die von Shiller verwendete Summe der jeweils vier letzten Quartalsgewinne.
Welche Rolle spielt die Entwicklung in China?
In China sind kürzlich Lockerungen von Restriktionen angekündigt worden, nachdem zuvor zwischen 70 und 80 Großstädte von mehr oder minder starken Lockdowns betroffen waren. Vor den wichtigsten chinesischen Handelshäfen bildeten sich große Schiffsschlangen. Dies dürfte die Problematik der ohnehin schon angespannten Lieferketten nochmals verschärfen. In Deutschland haben wir eine Diskrepanz zwischen den Auftragseingängen und der Produktion. Die Auftragseingänge sind hoch, die Aufträge können aber nicht vollständig abgearbeitet werden, weil wegen der Lieferkettenprobleme oftmals entscheidende Elemente oder Vorprodukte fehlen. Weil die Ukraine ein zentraler Produktionsstandort für die für die Automobilproduktion benötigten Kabelbäume ist, trug der Krieg in der Ukraine hierzu ebenfalls bei. Zu Beginn des Jahres wurde gehofft, dass die Lieferkettenprobleme auslaufen und die Aufträge abgearbeitet werden können. Die Unternehmen hätten selbst ohne neue Eingänge aufgrund des hohen Bestands mehrere Monate lang unter Volllast arbeiten können. Nun dürften uns die Lieferkettenprobleme aber wohl deutlich länger erhalten bleiben. Das trifft nicht nur die Produktion. Die Knappheit an Vorprodukten treibt auch die Produzentenpreise stark an. Unternehmen bezahlen für knappe Teile derzeit fast jeden Preis, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Sie werden versuchen, so gut es geht, ihre Kosten an die Verbraucher weiterzugeben, so dass sich der Druck an der Inflationsfront noch fortsetzen könnte, zumal wir in Deutschland, anders als in den USA, noch keine Lohn-Preis-Spirale hatten.
Wie vergleicht sich die aktuelle Lage aus Bewertungssicht mit anderen Krisen der Vergangenheit?
Während der drei zurückliegenden Krisen – der Großen Finanzkrise, der Euro-Staatsschuldenkrise und des Corona-Schocks – sind die Bewertungen des Dax und des Euro Stoxx 50 unter Buchwert gefallen. Für den Dax würde das derzeit einen Fall auf einen Stand um 9500 Punkte bedeuten. Das ist aber nicht unsere Prognose für die gegenwärtige Lage. Es wäre lediglich ein aus vergangenen Krisen abgeleiteter Worst Case.
Wie wird sich der Dax Ihrer Einschätzung nach im weiteren Jahresverlauf entwickeln?
Unsere derzeitige Prognose für das Jahresende lautet auf 14750 Punkte. Unserer Meinung nach wird sich der Aktienmarkt noch eine Zeit lang schwertun. Wir werden noch Rücksetzer sehen. Kurzfristig wird es noch keine Trendwende geben. Wir glauben aber, dass sich die Angst vor einer Stagflation nicht bewahrheiten wird und im Verlauf des zweiten Halbjahres eine Erholung einsetzt. Das setzt allerdings voraus, dass der Gashahn nicht zugedreht wird. Würde das geschehen, würde sich die Wahrscheinlichkeit einer Stagflation stark erhöhen.
Das Interview führte