Erneutes Nachgeben des Dow wahrscheinlich
Von Robert Rethfeld *)
Die gängige Annahme ist, dass sich der US-Aktienmarkt in einem Bärenmarkt befindet. Stagflationäre Tendenzen sind erkennbar. Ein Boom-(Inflations)-Zyklus, gefolgt von einem Bust-(Deflations-)Zyklus würde zu diesem Muster passen.
Folgt man der Voraussetzung von −20% für einen Bärenmarkt, so schaffen sowohl der S&P 500 (maximaler Verlust 24%) als auch der Nasdaq 100 (maximaler Verlust 33%) diese Marke. Der seit dem 26. Mai 1896 existierende Dow Jones Industrial Average verfehlt die Definition eines Bärenmarktes (−20% vom Hoch) allerdings. Sein maximaler Verlust betrug 18,8%. Dies ist relevant, weil der Dow Jones Industrial Average bereits viele Bärenmarktwellen durchlebt hat.
Erstes Panik-Tief
Wegen der langen Historie konzentrieren wir uns dennoch auf den Dow Jones Industrial Average. Normalerweise folgt einer ersten Panik eine Erholung, die wiederum in eine abschließende Verkaufsphase übergeht. Diese letzte Phase fällt in seltenen Fällen aus (wie im Frühjahr 2020). Über Tiefe und Zeitpunkt der ersten Panik kann man unterschiedlicher Auffassung sein, weil jeder Bärenmarkt in Struktur, Dauer und Tiefe unterschiedlich verläuft. Aber das Tief vom 17. Juni 2022 ist ein heißer Anwärter auf das erste Panik-Tief. Die Marke von −19% liegt im Mittelfeld der üblichen Erst-Panik-Verluste bei Betrachtung der vergangenen knapp 200 Jahre.
Selten der Boden
Das erste Panik-Tief beendet eine Baisse in der Regel nicht. Nur die Paniken von 1893, 1987 und 2020 schlossen das Kapital Bärenmarkt gleich nach der ersten Phase. Wie eine zweite Phase aussehen könnte, betrachten wir im folgenden Chart. Die aktuelle Dow-Korrektur von 12,8% (Top am 4. Januar 2022) macht auf dem Chart der Bärenmarktverläufe wenig Eindruck. Üblicherweise wird das finale Bärenmarkttief etwa anderthalb bis zwei Jahre nach dem Beginn erreicht. Aktuell sind acht Monate vergangen. Bärenmärkte können sich flach entwickeln – wie 1946 oder mit Abstrichen im Jahr 2000 – oder hohe Verluste um 50% einfahren (1906, 1919, 1937, 1973, 2007). Dramatischer war es in der großen Depression nach 1929 mit einem maximalen Verlust von 89,2%. Damals platzte auch das Zeitmuster, das Tief erfolgte erst nach dreieinhalb Jahren.
Wir konzentrieren uns zunächst auf die 50-%-Verlustverläufe. Würde ein solcher auftreten, würde der Dow sein März-2020-Tief von 18000 Punkten im Verlauf der zweiten Jahreshälfte 2023 erreichen. Weniger katastrophal wäre ein Muster wie in den Jahren 1946 bis 1949. Ein nerviges Seitwärtsgeschiebe würde Bullen und Bären jahrelang vor sich hertreiben. Eine Parallele: Im März 1947 lag die US-Inflationsrate bei 20,2%. Dies zeigt, dass Aktienmärkte Phasen hoher Inflationsraten widerstehen können, ohne dass nominal ein Verlust von mehr als 20% entsteht. Real wäre der Verlust höher, aber das gilt für alle durch einen Inflationsschock ausgelösten Bärenmarktverläufe. Der Dow Jones Industrial Average würde in diesem Fall sei-nen 4-Jahres-GD (dunkelblau, aktuell 29496 Punkte) immer wieder als Unterstützung nutzen.
Starker Bullenmarkt
Alternativ sollten wir nicht vergessen, dass seit dem März 2020 ein starker Bullenmarkt unterwegs ist, der den Wert des Dow Jones Industrial Average nahezu verdoppelte. Aktuell weist der Dow ein Plus von 77% gegenüber dem Tief vom März 2020 auf.
Wahrscheinlicher ist für uns die Wiederaufnahme des Abwärtstrends und damit die Fortsetzung des typischen Bärenmarktverlaufs. Das aktuelle Minus von 12,8% im Dow und 16% im S&P 500 ist für die Fed kein Grund, von einer aggressiven Inflationsstopp-Politik abzulassen.
Die Peak-Aggressivität der US-Notenbank sollte im Herbst erfolgen, vielleicht in der September-Sitzung, aber spätestens Anfang November. Die Zinsstrukturkurve 10 Jahre minus 2 Jahre bleibt deutlich invertiert. Die Zinsstrukturkurve zeigt damit eine US-Rezession an. Das Wirtschaftswachstum in den Vereinigten Staaten war sowohl im ersten als auch im zweiten Quartal 2022 negativ.
Am 17. Juni wurde ein wichtiges Tief im S&P 500 markiert, am 16. August ein Hoch an der 200-Tage-Linie. Einige unserer Charts besagen, dass sich im Verlaufe der kommenden vier Wochen ein weiteres wichtiges Tief ausbilden und der Bärenmarkt damit beendet sein sollte. Dies wäre ein Best-Case-Szenario. Die Bärenmarktverläufe suggerieren im Worst-Case-Szenario eine Fortsetzung des Bärenmarktes bis weit in das Jahr 2023 und die Möglichkeit eines Falls des Dow auf 18000 Punkte und damit auf das Corona-Tief vom März.
Wahrheit in der Mitte
Die Wahrheit dürfte dazwischen liegen. Mögen die Märkte nach einem September- oder Oktober-Tief steigen: Ein Retest der Tief-punkte oder im besten Fall höhere Tiefs könnten im Frühjahr 2023 stattfinden. An jenem Punkt ist die Gefahr groß, dass die Inflationsrate deutlich fällt. Sollten bereits die Monate davor von schwachen Inflationsraten geprägt sein, dann würden im Hinblick auf den März/April Deflationsängste aufkommen, die wiederum die Aktienmärkte negativ beeinflussen würden.
*) Robert Rethfeld ist Herausgeber des handelstäglichen Börsenbriefs Wellenreiter-Invest.