ESG-Portfolios vor Überbewertungen schützen
Steigendes Interesse an nachhaltigen Investments hat die Nachfrage nach ESG-freundlichen Aktien zuletzt deutlich angekurbelt. Um unnötige Anlagerisiken zu vermeiden, sollten sektorale Verzerrungen vermieden und Value-Kriterien bei der Zusammenstellung von ESG-Portfolios stärker berücksichtigt werden.
Laut Morningstar konnten Aktien von Gesellschaften mit hohen Umwelt- und Sozialstandards sowie einer verantwortungsvollen Unternehmensführung im vergangenen Jahr weltweit Nettomittelzuflüsse in Höhe von rund 600 Mrd. US-Dollar verzeichnen. Gegenüber 2020 entspricht dies einem Anstieg von über 60%, gegenüber 2019 sogar einer Verdreieinhalbfachung. Lagen die in globalen nachhaltigen Fonds investierten Vermögenswerte vor zwei Jahren noch bei 1 Bill. US-Dollar, waren es Ende 2021 ca. 2,7 Bill. Dollar. Bei vielen Anlegern hat diese Entwicklung die Besorgnis geweckt, dass die hohen Mittelzuflüsse inzwischen zu einer überhöhten Bewertung ESG-bezogener Aktien geführt haben könnten und die Renditeerwartungen entsprechend zu revidieren seien. Unterstützt wird diese Einschätzung von verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen, die die überproportionalen Kurssteigerungen in diesem Segment insbesondere (auch) auf die explodierende Investorennachfrage zurückführen. Ohne diese hätten ESG-Investments den Gesamtmarkt zwischen 2016 und 2021 deutlich underperformt, wie es beispielsweise bei Van der Beck („Flow-Driven ESG Returns“) heißt.
Und in der Tat kommt auch Professor Robert Shiller von der Yale University im Rahmen empirischer Auswertungen zu dem Ergebnis, dass Aktien mit vernachlässigbarem, geringem und mittlerem ESG-Risiko („ESG-Aktien“) signifikant höher bewertet sind als der Gesamtmarkt und erst recht als solche mit hohem und sehr hohem ESG-Risiko („Nicht-ESG-Aktien“). Dabei gilt diese Aussage unabhängig davon, ob das Kurs-Gewinn-Verhältnis, das Zehn-Jahres-CAPE (Cyclically Adjusted Price-to-Earnings Ratio), auch als „Shiller-KGV“ bekannt, oder das Kurs-Buchwert-Verhältnis als Maßstab angelegt wird – und zwar sowohl für den europäischen als auch für den amerikanischen Aktienmarkt. Bemerkenswert ist jedoch, dass dies nicht nur aktuell bzw. für die letzten beiden Jahre, sondern zumindest seit Dezember 2014, dem Beginn des Untersuchungszeitraums gilt. So liegt der tatsächliche Grund für die überdurchschnittlich hohe Bewertung ESG-freundlicher Aktien dann auch an einer anderen Stelle, nämlich der Sektorverteilung. Einige Sektoren, wie etwa zyklische Konsumgüter und Titel aus der Informationstechnologie oder der Kommunikationsbranche, weisen strukturell bessere mittlere ESG-Risiko-Ratings auf als andere (z. B. Energie und Rohstoffe). Zudem entfallen die durch ein Negativ-Screening ausgeschlossenen Werte auf ganz bestimmte Branchen. Eine Aktienauswahl allein auf Grundlage der individuellen ESG-Risikobewertung führt deshalb zu erheblichen sektoralen Ungleichgewichten eines Portfolios.
Innerhalb der einzelnen Sektoren lässt sich dagegen keine klare Über- oder Unterbewertung von ESG- und Nicht-ESG-Aktien feststellen. Bei den meisten Branchen fallen die internen Bewertungsunterschiede sehr gering aus oder sie ändern im Laufe des Stichprobenzeitraums sogar ihr Vorzeichen. Bei beiden Gruppen (ESG- und Nicht-ESG-Aktien) lassen sich zudem günstige und teure Aktien identifizieren. Steigen die daraus resultierenden Bewertungslücken im historischen Vergleich zu weit an, wird sich der relative Performancetrend der jeweiligen Titel langfristig umkehren und die Bewertungsdifferenz wird sich wieder verringern. Trotz der jüngsten Verschiebungen sollte die Kursentwicklung der aktuell günstigen Value-Aktien die Performance der immer noch relativ teureren Wachstumswerte mittelfristig deshalb übertreffen.
Dabei fällt auf, dass die Bewertungsspanne der ESG-Aktien mit der des gesamten Universums weitestgehend übereinstimmt, wobei sich die Bewertungsbandbreite insgesamt in den letzten Jahren vergrößert hat. Die Wertanalyse auf Basis der üblichen Kennziffern und eine gezielte Anlage in Value-Aktien aus dem ESG-Universum können somit eine ebenso hohe Outperformance bieten wie der Einsatz einer Value-Strategie für das gesamte Aktienspektrum.
Value-Kriterien
Grundsätzlich lässt sich auf Basis der dargestellten Analyseergebnisse nicht ausschließen, dass die höhere Bewertung „ESG-affiner“ Sektoren durch das geringere finanzielle Risiko dieser Werte gerechtfertigt ist. Dies ändert jedoch nichts an der Notwendigkeit, sich über unbeabsichtigte sektorale Verzerrungen im Klaren zu sein, die mit einer Konzentration auf Aktien mit den besten ESG-Ratings verbunden sind. Zudem haben die Untersuchungen gezeigt, dass die Auswertung wertorientierter Kennzahlen, wie etwa des Shiller-KGVs, auch im Bereich nachhaltiger Investments zu einer Outperformance führen kann. Nachhaltig orientierte ETF-Anleger sollten sich deshalb bewusst auf solche Exchange Traded Funds konzentrieren, die bei ihrer Portfoliozusammenstellung ESG- und Value-Kriterien miteinander verknüpfen.