Euro und Dollar im Ungleichgewicht
Von Sebastian Sachs *)
Der Devisenmarkt befindet sich aktuell im Ungleichgewicht – und das gilt nicht nur für das Währungspaar Euro/Dollar. Obwohl es oberflächlich betrachtet den Anschein hat, die aktuellen Probleme, insbesondere mit Blick auf die überbordende Inflation und sich abzeichnende Rezessionsrisiken, würden sämtliche Währungsräume gleichermaßen treffen, gibt es doch starke Unterschiede zwischen den USA und der Eurozone – insbesondere mit Blick auf die kurze Frist. Zudem spielen das Sentiment und die daraus abzuleitende Risikoneigung in Krisenzeiten eine deutlich dominantere Rolle und lassen einzelne Valuten von ihrem „fairen Wert“ abweichen – sofern es so etwas überhaupt gibt. Im derzeitigen Umfeld, auch wenn wir die Historie als Richtschnur nehmen, lassen sich Szenarien für ein deutliches Über-, aber auch Unterschießen von Euro/Dollar ableiten. Wir versuchen an dieser Stelle eine Einordnung.
Die Frage der Bewertung lenkt den Blick schnell auf die Kaufkraftparitäten. Und hier scheint die Lage eindeutig: Je nach verwendeter Berechnungsmethode ist die Einheitswährung zum Greenback zwischen 20% (Big-Mac-Index) oder knapp 40% (OECD-Index) unterbewertet. Zwar lassen sich schnell Gründe für die momentane Führungsposition des Dollar finden, über das Ausmaß der Überbewertung lässt sich jedoch trefflich streiten. Klar ist, dass die amerikanische Valuta aktuell vor allem als sicherer Hafen stark nachgefragt wird. Weniger klar ist hingegen, ob sich Währungspaare ganz generell in der langen Frist ihren Kaufkraftparitäten annähern, oder ob dieser Faktor nur noch eine grobe Richtschnur darstellt.
Blicken wir auf den Kursverlauf in der langen Dimension – sprich Euro/Dollar zurückgerechnet seit Anfang der achtziger Jahre –, ist gut zu erkennen, wie schnell das Währungspaar ins Extrem laufen kann. 1985 wurde mit (umgerechnet) 0,64 ein sehr markantes Tief markiert. Im Jahr 2000 ging es dann noch einmal auf Niveaus knapp über 0,80 zurück. Und genau von diesem Tief kletterte Euro/Dollar dann in nahezu einem Zug (allerdings über mehrere Jahre) auf das Rekordniveau von 1,60. Natürlich stellt die Historie nur selten eine funktionierende Blaupause für die Gegenwart dar. Doch zumindest gewinnen wir hieraus einen Eindruck, dass ein Überschießen in die eine oder andere Richtung schneller Realität werden kann als gemeinhin gedacht.
Hartnäckige Inflation
Momentan sehen sich die USA einem leicht hartnäckigeren Inflationstrend gegenüber als die Eurozone. Und die sich hieraus ergebende Zins-/Renditedifferenz ist ein wichtiger Unterstützungsfaktor für den Dollar. Dieser Vorteil wird unterfüttert durch eine aggressiv handelnde Federal Reserve, die den Inflationskampf angenommen hat und diesen jüngsten Aussagen von FOMC-Offiziellen zufolge auch so schnell nicht aufgeben wird. Fortgesetzte Unterstützung erhält der Greenback durch die weltweit gestiegenen Rezessionsängste, die die US-Währung, wie bereits oben erwähnt, als Hort der Sicherheit erscheinen lassen. Auch der Blick auf die implizite Volatilität von Euro/Dollar ist interessant, stehen wir doch mit der Drei-Monats-Vola – trotz jüngster deutlicher Entspannung – nach wie vor auf Niveaus, die direkt nach Ausbruch von Corona erreicht worden waren. Auch dies ist ein Zeichen für die Angespanntheit des Marktes und mithin ein Plus für den Dollar.
Dieser gut zu argumentierenden Dollar-Stärke steht bezeichnenderweise aktuell eine ausgewiesene Euro-Schwäche gegenüber. Insbesondere der Krieg in der Ukraine hinterlässt seine Spuren. Und die Folgen, obwohl eigentlich global verteilt, treffen den einheitlichen Währungsraum und insbesondere Deutschland asymmetrisch hart. Mit Blick auf den Winter kann noch mit einer Verschärfung der Situation gerechnet werden.
Zu diesen Problemen gesellt sich die kritische und durchaus gefährliche politische Lage in Italien. Über all dem schwebt eine Europäische Zentralbank (EZB), die zumindest lange Zeit nicht den Eindruck vermittelt hat, die Situation wirklich im Griff zu haben – und dies selbst nach dem beherzten ersten Zinsschritt noch immer nicht so richtig tut. Hinzu kommt – und das ist vor allem für die mittelfristige Argumentation von Bedeutung –, dass trotz einer zögerlichen EZB die Rezessionsangst im einheitlichen Währungsraum durchaus stärkere Formen annehmen kann als in den USA – vor allem, da die Wirtschaft jenseits des Atlantiks bereits im Zyklus viel weiter fortgeschritten ist.
Kurzfristig sehr negativ
Ziehen wir hier so etwas wie ein Zwischenfazit, dann resultiert daraus eine kurzfristig sehr negative Sichtweise auf den Euro. Im Falle einer Verschärfung der aktuellen Energie- und insbesondere Gaskrise sind Kursniveaus unter der Parität für Euro/Dollar schnell wieder vorstellbar. Ab diesem Niveau kann sich der Absturz der Einheitswährung noch weiter beschleunigen. Denn beim Blick auf den langfristigen technischen Chart erkennen wir, dass bereits bei rund 1,09 sehr wichtige Niveaus nach unten durchschlagen wurden. Zudem befinden wir uns unter der Parität in einem Umfeld, in dem die nächsten Unterstützungen lange gesucht werden müssen.
In der längerfristigen Betrachtung gehen wir von einer weitgehenden Bereinigung der kurzfristigen Belastungs-/Unterstützungsfaktoren für Euro/Dollar aus und somit von einer Annäherung an die durch die Kaufkraftparität angezeigten „fairen“ Niveaus. Und genau hierdurch entsteht sogleich wieder Raum für diejenigen Probleme des Greenback, die bereits seit Jahren mehr oder weniger intensiv diskutiert werden: Da ist zum einen das „twin deficit“ und die hohe Quote der Staatsverschuldung in den USA. Darüber hinaus gab es in den vergangenen Jahren verstärkt Diskussionen um die zukünftige Rolle des Greenback als Weltreserve- und Welthandelswährung – denn insbesondere der Yuan versucht, die Nummer-1-Position des Dollar zunehmend streitig zu machen. Die EZB wird im kommenden Jahr zudem vermutlich zumindest etwas länger auf der Bremse bleiben als die Fed, was die gesamte Zins-/Renditediskussion egalisieren dürfte. Insgesamt sehen wir 2023 gute Chancen für eine Aufholbewegung der Einheitswährung, im Rahmen derer auch ein kräftiges Überschießen nicht ausgeschlossen werden kann.
Die Frage, ob Donald Trump im nächsten Präsidentschaftswahlkampf wieder eine maßgebliche Rolle spielen kann und wird, dürfte sich zwar erst später endgültig klären. Doch auch hier unterstreicht ein Blick in die Historie (2017), dass ein erstes Amtsjahr Trump für den Greenback keine positiven Vorzeichen bereithält, sondern im Umkehrschluss vielmehr den Euro beflügeln sollte.
Der Devisenmarkt bewegt sich in Wellen, nur dass diese aktuell und perspektivisch aufgrund des starken Einflusses von Sentimentfaktoren durchaus höhere Hochs und tiefere Tiefs ausbilden können als in einem „normalen“ Umfeld. Auch wenn dies nicht unser Basisszenario ist, gilt es doch, darauf in gewisser Weise vorbereitet zu sein.
*) Sebastian Sachs ist Finanzanalyst FI/FX beim Bankhaus Metzler.