Fragmentierungsfurcht geht am Bondmarkt um
Von Sophia Oertmann*)
Der Kursschwenk der Europäischen Zentralbank bringt den Rentenmarkt ins Wanken. Renditen und Spreads stiegen im Juni zwischenzeitlich auf Mehrjahreshöchststände. Bei den Investoren löste nicht nur um das Ende der Anleihe-Neukäufe, sondern auch die erste Leitzinsanhebung seit mehr als einem Jahrzehnt Sorgen aus. Das durch die EZB jahrelang aufrechterhaltene Gleichgewicht an den Staatsanleihe- und Geldmärkten der Europäischen Währungsunion (EWU) kam damit ins Wanken, und es ging ein neues Gespenst um: Fragmentierungsrisiken.
Auf die neu entfachte Debatte über die Zerbrechlichkeit der EWU-Staatsanleihenmärkte reagierte die EZB unerwartet schnell und berief am 15. Juni eine Notfallsitzung ein. Das Ergebnis: Man arbeitet an einem Antifragmentierungsinstrument, das auf der nächsten Ratssitzung vorgestellt wird. Doch ist es wirklich so schlecht bestellt um die geldpolitische Transmission in der Währungsunion? Oder läuft nur ein Risikoneubewertungsprozess, der angesichts der geldpolitischen Straffung der EZB erwartbar war?
Tiefpunkt durchschritten
Steigende Renditen und Spreads haben längerfristig Auswirkungen auf die Schuldentragfähigkeit der Staaten. Besonders akut ist das Thema angesichts der coronabedingt stark gestiegenen Schuldenstände der EWU-Staaten. Als der zehnjährige spanische Bund-Spread vorigen Monat über die Marke von 130 Basispunkten (BP) stieg, wurde die spanische Zehnjahresrendite auf fast 3% katapultiert. Nach Jahren, in denen die durchschnittlichen Refinanzierungskosten immer weiter gefallen waren, liegt der bisherige zehnjährige Rendite-Jahresdurchschnitt nun wieder gleichauf mit den durchschnittlichen Zinskosten für Spaniens Gesamtportfolio. Damit ist das Land repräsentativ für weite Teile der Eurozone: Der Tiefpunkt bei den durchschnittlichen Refinanzierungskosten wird bald durchschritten sein.
Zunächst sind steigende Refinanzierungskosten für die Staaten jedoch kein akutes Problem und angesichts der schrittweisen geldpolitischen Straffung auch wenig überraschend. Entscheidend ist in der kurzen Frist das notwendige Kriterium des Primärmarktzugangs. Insbesondere während der Euro-Krise verloren Staaten des Peripheriesegments wie Griechenland ihren Marktzugang. An den Primärmärkten konnten Auktionen nicht stattfinden, und das Volumen syndizierter Transaktionen fiel schlagartig. Bislang gibt es in der EWU keine Anzeichen für einen solchen Käuferstreik. Nicht nur die Geldpolitik der EZB, sondern auch Hilfsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) oder des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) dürften im Zweifelsfall rechtzeitig bereitstehen, um das damit verbundene Risiko einer Zahlungsunfähigkeit zu verhindern.
Hält der Anstieg der Refinanzierungskosten hingegen länger an, so wirkt sich das nicht nur auf die Schuldentragfähigkeit aus, sondern früher oder später auch auf das Rating. Mit dem Ausklingen der Eurokrise startete ein positiver Ratingtrend, insbesondere da der deutliche Rückgang der Refinanzierungskosten den Anstiegstrend bei der Staatsverschuldung in den meisten Euro-Ländern beendete. Bei der Bonitätsbeurteilung der drei großen Ratingagenturen könnten sich die Refinanzierungsbedingungen allmählich von einem positiven in einen negativen Faktor wandeln, da die Agenturen vorausschauend auf die anziehenden Zinskosten blicken dürften. Eventuelle Ratingherabstufungen könnten zu einem Katalysator für weitere Verschlechterungen der Refinanzierungsbedingungen werden – schlimmstenfalls droht ein Teufelskreis.
Italien als Elefant im Raum
Italien ist der Elefant im Raum, wenn es um EWU-Fragmentierungsrisiken geht. Die Schuldenstandsquote ist im Zuge der Coronakrise auf über 150% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestiegen und sinkt seitdem nur langsam. Zwar waren die Refinanzierungskosten in den vorigen Jahren rückläufig, und die aktuell hohe Inflation führt isoliert betrachtet dazu, dass die nominalen Verschuldungskennziffern an Wert verlieren. Allerdings standen die Budgetdefizite und das geringe reale Wachstum einem stärkeren Rückgang der Gesamtverschuldung im Weg.
Steigen die Refinanzierungskosten längerfristig, müsste Italien auf konsumtive Ausgaben verzichten, um die höheren Aufwendungen des Schuldendienstes bewältigen zu können. Andernfalls droht ein erneuter Anstieg der Schuldenstandsquote. Auf Basis der IWF-Prognosen zum BIP-Wachstum, Primärsaldo und zur Inflation haben wir die italienische Staatsverschuldung einer Szenarioanalyse unterzogen. Der Vergleich zeigt, dass eine Verschlechterung des Primärsaldos um 2 Prozentpunkte zu einem deutlicheren Anstieg der Staatsverschuldung führt als ein Anstieg der Refinanzierungskosten um 200 BP. Besonders kritisch wäre jedoch, wenn beide Effekte zusammenträfen. Dabei beeinflusst der Primärsaldo in gewissem Umfang auch die Höhe der Refinanzierungskosten. Eine um 2 Prozentpunkte höhere Inflationsrate würde die Staatsverschuldung deutlich reduzieren, kann jedoch von der Regierung kaum unmittelbar beeinflusst werden und birgt gesamtwirtschaftlich viele Nachteile.
Die wichtigste Stellschraube für den Erhalt der Schuldentragfähigkeit ist aus Sicht der Regierungen daher der Primärsaldo. Werden die Ausgaben vor Zinszahlungen reduziert, können langfristig höhere Aufwendungen für den Schuldendienst kompensiert werden. Ein moderater Anstieg der Risikoaufschläge italienischer Staatstitel gegenüber Bundesanleihen stellt dann noch nicht unmittelbar ein Fragmentierungsrisiko dar. Ein rechtzeitiges Gegensteuern der Staaten ist aber wichtig, damit das Vertrauen der Investoren nicht erschüttert wird und der Eindruck entsteht, dass die Refinanzierungsfähigkeit von den Marktinterventionen der EZB abhängt.
Hohe Erwartungen
Genau dieser Eindruck wurde durch die Ankündigung des Antifragmentierungsinstruments der EZB jedoch genährt. Ebenso schnell wie sich die temporären Spread-Spitzen Anfang Juni aufgebaut hatten, brachen sie im Nachgang der EZB-Notfallsitzung wieder ein. Am Markt werden verschiedene Optionen der Ausgestaltung des Instruments diskutiert. Diese reichen von einer – bereits vorhandenen – höheren Flexibilität bei den PEPP-Reinvestitionen zugunsten von Peripherieanleihen bis zum aktiven Kauf von Peripherietiteln zur Spread-Steuerung. Fest steht, dass die Erwartungen an das Instrument hoch sind und entsprechendes Enttäuschungspotenzial besteht.
Selbst wenn Ende des Monats das EZB-Geheimnis gelüftet werden dürfte, bleibt vermutlich die Ungewissheit darüber, unter welchen Marktbedingungen das neue Werkzeug Anwendung findet. Dafür bietet die Fragmentierungsskala von steigenden Refinanzierungskosten über ausufernde Schuldenstände und Ratingverschlechterungen bis hin zur Störung des Primär- und Geldmarktzugangs viele Einstiegsgelegenheiten. Der EZB bleibt eine gute „Timing Ability“ zu wünschen.
*) Sophia Oertmann ist Rentenmarktanalystin bei der DZ Bank.