InterviewChristian Mueller-Glissmann, Goldman Sachs

„Für uns fängt es immer mit dem 60/40-Portfolio an“

Christian Mueller-Glissmann, Cross-Asset-Stratege bei Goldman Sachs, erklärt im Interview der Börsen-Zeitung, was passieren müsste, damit die Fed zu einem großen Zinsschritt greift, und wie das optimale Portfolio für die nächste Dekade aussieht.

„Für uns fängt es immer mit dem 60/40-Portfolio an“

Im Interview: Christian Mueller-Glissmann

„Für uns fängt es immer mit dem 60/40-Portfolio an“

Goldman-Experte erwartet drei Zinssenkungen – Volatilität und Inflation werden Märkte stärker belasten

Christian Mueller-Glissmann, Cross-Asset-Stratege bei Goldman Sachs, erklärt im Interview der Börsen-Zeitung, was passieren müsste, damit die Fed zu einem großen Zinsschritt greift, und wie das optimale Portfolio für die nächste Dekade aussieht.

Herr Mueller-Glissmann, in den USA stehen Präsidentschaftswahlen an. Dennoch erwarten die Märkte, dass die Fed handelt und die Leitzinsen senkt. Was erwarten Sie?

Für das Treffen im September erwarten wir eine Zinssenkung um 25 Basispunkte. Die Fed hat basierend auf dem Makrodatensatz unabhängig von den Wahlen eine sehr klare Begründung, mit Zinskürzungen zu beginnen. Wir haben sowohl eine starke Inflationsnormalisierung gesehen, als auch vor kurzem die Abschwächung am Arbeitsmarkt. Das gibt der Fed eine relativ klare Marschrichtung. Kumulativ erwarten wir bis zum Jahresende drei Zinssenkungen um insgesamt 75 Basispunkte. Das ist etwas weniger aggressiv, als das, was der Markt aktuell einpreist.

Am Markt wird für den September über eine große Zinssenkung um 50 Basispunkte spekuliert. Warum glauben Sie nicht daran?

Vor kurzem wurden aktuelle Daten zu Löhnen und der Arbeitslosenquote veröffentlicht. Und wenn die Arbeitslosenquote sinkt, was der Fall war, dann ist es schwierig für die Fed, aggressiver vorzugehen als diese 25 Basispunkte, die das Basisszenario sind. Nur für das Szenario, falls der Aktienmarkt vor dem Meeting sehr stark unter Druck geraten würde, könnte die Fed sich zu einer größeren Senkung gedrängt sehen.

Liebling vieler Aktionäre waren lange Tech- und KI-Titel. Ebendieser Sektor hat jetzt aber bereits zweimal, Anfang August und Anfang September, für reichlich Turbulenzen an den Aktienmärkten gesorgt. Wie geht es weiter mit der Branche?

Wir denken grundsätzlich, dass KI und die Technologierevolution weiteres Potenzial haben, die Renditen und die Effizienz von Unternehmen zu erhöhen und die Profitabilität zu steigern. Ob das aber die gleichen Titel sind, die bisher den Markt getrieben haben, ist eine andere Frage. Wir schauen uns den Aktienmarkt und Assetklassen immer mit Blick auf drei Zyklen an: den strukturellen Zyklus, den Geschäftszyklus und den Stimmungszyklus.

Was ist Ihnen dabei aufgefallen?

Der strukturelle Zyklus hat zum Teil natürlich durch KI diesen Rückenwind, der die Märkte unterstützen kann. Beim Geschäftszyklus haben wir dieses Jahr gesehen, dass der gleichgewichtete S&P 500 bzw. der S&P 500 ohne die Magnificent Seven nicht besonders gut performt hat. Der Markt hat sich sehr auf die potenziellen strukturellen KI-Gewinner fokussiert. Das hat sich auch im Stimmungszyklus gezeigt. In den Sommer hinein haben viele unserer Indikatoren über die Assetklassen, aber auch über die Investorenkategorien hinweg gezeigt, dass da sehr viel Euphorie war.

Wie kam es dann zu den Korrekturen?

Die Korrektur, die wir Anfang August und noch einmal Anfang September gesehen haben, beruhte auf einer Kombination mehrerer Faktoren: einer Abschwächung der US-Konjunktur und negativen Makroüberraschungen. Das lastet natürlich auf dem Risikoappetit. Dann kam der Ausblick eines der großen Tech-Unternehmen, der an den Märkten nicht vollends überzeugen konnte. Man könnte argumentieren, dass das eine sehr gesunde Korrektur war. Wenn die Rally weitergegangen wäre, wäre auch das Risiko, dass so eine Korrektur dann irgendwann deutlich größer ausfallen könnte, weiter gewachsen.

Und diese Korrektur kam zum richtigen Zeitpunkt?

Diese Korrektur kam sogar relativ früh. Wenn man sich die Bewertungen der Magnificent Seven anschaut, dann sind diese im Aggregat eigentlich nicht so hoch. Sicherlich nicht vergleichbar mit dem, was wir in der Tech-Bubble der Nullerjahre gesehen hatten. Die Eigenkapitalrendite des S&P 500 ist im Moment viel höher als zur damaligen Zeit. Und was ganz wichtig ist, die Profitabilität der Magnificent Seven ist deutlich höher. So lange sie so profitabel bleiben und entsprechend ihre Wachstumsraten und die Erwartungen erfüllen, werden sie sich stabilisieren können.

Sind die Erwartungen an ein Unternehmen wie Nvidia oder an die Magnificent Seven vielleicht ein bisschen zu sehr in den Himmel gewachsen, so dass sie irgendwann gar nicht mehr zu erfüllen waren?

Wir haben in den letzten drei, vier Quartalen viele Unternehmenszahlen gesehen, die oft über den Erwartungen lagen, nicht nur bei Tech-Werten, sondern auch im breiteren Markt. Jetzt im zweiten Quartal war das Sentiment sehr euphorisch, und es gab drei Faktoren, die uns besorgt haben. Der erste waren die negativen Überraschung von Daten aus den USA, insbesondere am Arbeitsmarkt. Der zweite war der sehr große Optimismus bei KI und mit Blick auf die Magnificent Seven, und das Dritte sind die US-Wahlen, die immer näher kommen. Darum sind wir taktisch etwas vorsichtiger geworden und haben über den Sommer Aktien in der Asset Allokation von übergewichten auf neutral genommen.

Rückenwind hatten zuletzt Small Caps, wie man sie im Russell 2000 findet, nachdem sie lange das Nachsehen gegenüber den Big Caps hatten. Geht diese Erholung weiter, oder könnte sie angesichts konjunktureller Unsicherheiten auch schnell wieder ein Ende haben?

Es ist tatsächlich so, dass in Perioden von Zinskürzungen, auf die keine Rezession gefolgt ist, was ja unser Basisszenario ist, man eigentlich eine Verbreiterung der Aktienrally sehen müsste. Teile des Aktienmarktes mit hoher Verschuldung haben in den vorigen zwei, drei Jahren stark gelitten, und das inkludiert die Small und Mid Caps. Wenn die Zinskürzungen jetzt kommen, dann könnten die Bereiche, die entweder aufgrund der hohen Verschuldung oder des hohen Umsatz-Leverages schlecht performed haben, sich erholen. Aber man muss auch ein bisschen vorsichtig bleiben. Wahrscheinlich ist das keine Opportunität für mehrere Quartale, sondern ein Bereich, der zu Beginn dieses Zinssenkungszyklus profitieren könnte.

Ich habe von Ihnen einen Beitrag zum Thema „Das optimale Portfolio“ gelesen. Wie sieht das denn für Sie aus in diesen Zeiten und wie vielleicht ein bisschen längerfristig geschaut für die kommende Dekade? Was sollte da drin sein und was eher nicht?

Für uns fängt es immer mit dem 60/40-Portfolio an. 60% Aktien, 40% Anleihen. So ist ein Großteil der Investoren in den USA aufgestellt, und das war in den vergangenen 100 Jahre sehr nahe am optimalen Portfolio mit den höchsten risikoadjustierten Renditen. In Europa ist der Aktienanteil zumeist etwas geringer und der von Anleihen höher, so dass wir stärker von einem 40/60 Portfolio sprechen. Das liegt zum Teil an demografischen Gründen. In den vorigen zwei, drei Jahren hatten Multi-Asset-Portfolios starke Rücksetzer, so dass manchmal angezweifelt wird, ob solche Portfolios überhaupt noch Vorteile haben. Mehr Aktien haben mehr Rendite gebracht. Es gab in den vorigen Jahren durch die Inflation aber auch ungewöhnliche Bewegungen. Wir denken daher, dass 60/40-Portfolios grundsätzlich weiterhin sehr sinnvoll sind. Aktuell ist das Problem, dass ein Großteil der Zinssenkungen bereits eingepreist sind. Daher ergibt es Sinn, sich in den nächsten drei bis sechs Monaten stärker zu diversifizieren, anstatt nur auf Aktien und Anleihen zu setzen. Ein zweiter Faktor ist die Fiskalpolitik, die global in den vorigen Jahren deutlich expansiver geworden ist, sowohl in den USA als auch in verschiedenen anderen Ländern. Das bedeutet, dass die langfristigen Zinsen voraussichtlich nicht so stark sinken werden, weil die Notenbanken höhere Risikoprämien für die Fiskalpolitik einpreisen müssen.

Das optimale Portfolio muss sowohl Inflation als auch Innovation reflektieren.

Die Lösung ist für Sie also eine noch stärkere Diversifizierung?

Ja. Wir nehmen mehr alternative sogenannte „Safe-Haven-Anlagen“ in das Portfolio auf. In den vorigen zwei Jahren waren etwa Gold und der Schweizer Franken interessant. Auch der Yen könnte zurückkommen. Ein 60/40-Portfolio, ergänzt um solche relativ gesehen sicheren Anlagen, ist für uns das optimale Portfolio für die nächste Dekade.

Was sind für Sie die großen Themen, die diese nächste Dekade bestimmen werden?

Wir haben drei Herausforderungen, für die wir als Gesellschaft und auch als Investoren eine Lösung finden müssen. Das ist die Dekarbonisierung, die Deglobalisierung und die demografische Entwicklung. Diese drei Ds, wie wir sie nennen, beinhalten das Risiko, mehr Inflation und mehr Volatilität auszulösen. In den vorigen 30 Jahren war die Inflation relativ stabil auf niedrigem Niveau. 2022 gab es dann einen Warnschuss, als klar wurde, dass das Inflationsrisiko doch zurückkommen kann. Das ist das erste Thema, das man im Portfolio adressieren muss. Und ein weiteres ist natürlich die Innovation. Wir haben die KI-Revolution, die sehr viele Optionalitäten für Unternehmen und Volkswirtschaften kreiert. Aber wir haben auch andere Innovationen, z. B. im Healthcare-Bereich und im Bereich erneuerbare Energien, die zum Teil auch durch KI beschleunigt werden. Innovationen werden immer wichtiger in einer Welt, die mit Blick auf das ökonomische Wachstum begrenzt ist.

Was bedeutet das für das optimale Portfolio?

Das Portfolio muss sowohl Inflation als auch Innovation reflektieren. Für die nächste Dekade gehen wir davon aus, dass das optimale Portfolio aus 1/3 Aktien, 1/3 Anleihen und 1/3 realen Assetklassen bestehen sollte. Auf der Aktienseite ist es wichtig, dass man die angesprochenen Innovationen abbildet. Anleihen sollten die Wachstumsrisiken puffern. Bei realen Assets kann man beispielsweise in Infrastruktur investieren und womöglich in die stark gefallenen Immobilienwerte, die sich jetzt durch niedrige Zinsen stabilisieren könnten. Das kann man auch über Aktien abbilden, und dann erreicht man schnell wieder eine Aktienquote von 50 bis 60% – der Rest geht in inflationsgeschützte Anleihen –, und so ist man wieder bei einem 60/40-Portfolio, was in den vergangenen 150 Jahren der optimale Asset-Mix war.

Welche Branchen sehen Sie denn als künftige Markttreiber? Sie hatten gerade schon Healthcare und Infrastruktur genannt.

Der globale Manufacturing-Sektor, also die verarbeitende Industrie, könnte, wenn die Zinsen sinken, am Beginn eines neuen Zyklus stehen. Auch Luxus-Titel haben stark nachgelassen, haben aber in vielen Bereichen eine reale Preissetzungsmacht.

Kommen wir zum Abschluss noch einmal kurz auf die US-Wahlen zurück. Was erwarten Sie für Auswirkungen auf die Aktienmärkte? Gibt es überhaupt große Auswirkungen? Oder gilt das alte Sprichwort, dass politische Börsen meistens sehr kurze Börsen haben?

Die Unsicherheit um Wahlen herum ist traditionell groß. Das kann sich auf den Aktienmarkt auswirken. Daher sind wir vorsichtig, Portfolios im Zeitraum um Wahlen umzuschichten. Viel wird auch davon abhängen, ob die Gewinnerin oder der Gewinner auch die Kontrolle über Senat und Kongress haben wird. Historisch ist es so, dass der Markt in der Regel etwa acht Wochen vor den Wahlen beginnt, das Thema in den Blick zu nehmen, also in etwa zum jetzigen Zeitpunkt.  

Das Interview führte Tobias Möllers. Den Text in voller Länge lesen Sie auf www.boersen-zeitung.de.