Paul Jackson, Invesco

„Inflationsziele sind nicht unbedingt eine gute Idee“

Der Invesco-Stratege Paul Jackson setzt auf eine Erholung in China. Die platzenden Blasen am Kryptomarkt und bei US-Techwerten führt er auf das Ende der Politik des billigen Geldes zurück.

„Inflationsziele sind nicht unbedingt eine gute Idee“

Andreas Hippin.

Herr Jackson, was halten Sie vom Geschehen am Kryptomarkt?

Ich bin schon immer skeptisch gewesen, was Kryptoassets angeht. Es ist eine interessante Technologie. Das Mining erinnert fast schon an ein Computerspiel. Ich sehe das wie John Paulson: Ja, es gibt ein begrenztes Angebot. Aber es ist ein begrenztes Angebot von nichts. Christine Lagarde hat festgestellt, dass diese Dinge wertlos seien. Die Aufsicht müsse verhindern, dass Menschen ihre Lebensersparnisse hineinstecken.

Und wie denken Sie darüber?

Ich denke, dass in den vergangenen Jahren nicht nur in der Kryptowelt, sondern auch in anderen Teilen des Finanzmarkts Blasen entstanden sind. Und auch dieses Mal gehen sie auf die Möglichkeit zurück, sich in großem Umfang Geld zu leihen. Die überreichliche Verfügbarkeit von Krediten war ein Resultat der Pan­demie.

Wieso das?

Die Regierungen wollten die Cashflows der privaten Haushalte und Unternehmen schützen. Um das zu ermöglichen, pumpten die Zentralbanken eine Menge Geld ins System, oft durch Quantitative Easing. Das führte zu einem hohen Geldmengenwachstum, insbesondere in den USA. Die Geldmenge wuchs wesentlich stärker als das Bruttoinlandsprodukt auf nominaler Ebene. Wir hatten eine monetäre Explosion.

Was passiert in so einem Fall?

Dieses exzessive Wachstum geht irgendwo hin, sehr oft findet es seinen Weg in finanzielle Vermögenswerte. Es gab also dort Blasen am Aktienmarkt, wo auf spekulatives Wachstum gesetzt wurde. Die Kurse von FAANG-Aktien haben sich extrem gut entwickelt. Auch bei den Autoaktien spiegelte sich das wider, vor allem bei einer Autoaktie. Auch der Kryptomarkt reflektiert das. Am Ende fangen die Leute an zu glauben, dass das Geld auf Bäumen wächst.

Wie äußert sich das?

Man kauft zum Beispiel Bitcoin in der Erwartung, dass es schon ein anderer zu einem höheren Preis kaufen wird, weil man meint, dass diese Dinge immer im Wert steigen, auch wenn man selbst weiß, dass nichts dahintersteckt. Man hat Angst, etwas zu verpassen. Vielleicht hat ja der Nachbar viel Geld damit gemacht. Es entwickelt sich eine unwiderstehliche Anziehungskraft, wenn Einzelpersonen und Unternehmen damit ein Vermögen verdienen.

Wirkt sich das auch auf den Rest der Wirtschaft aus?

Leute aus der Kryptowelt wollten Fußballclubs übernehmen oder in Non-Krypto-Unternehmen investieren. Es ist bekannt, dass Tesla in Bitcoin investiert hat und von Käufern seiner Autos auch eine Bezahlung in Bitcoin akzeptiert. Eine wachsende Zahl von Banken und Investmentmanagern hat den Widerstand aufgegeben, nachdem Kunden ständig nachfragen. Sie wollen irgendwie daran teilhaben. Jetzt wird versucht, das alles rückgängig zu machen. Die Geldmenge wächst nicht mehr exzessiv, sondern wächst jetzt langsamer als das nominale BIP.

Andererseits verfolgen die Regierungen eine inflationäre Politik. Wird das in einer Rezession enden?

Die Wahrscheinlichkeit wächst. Zu Jahresanfang hätte ich noch gesagt, dass wir noch recht viel Zeit haben, bis wir diesen Punkt im Zyklus erreichen. Die Inflation begann bereits vor der russischen Invasion der Ukraine, allerdings kam dadurch eine weitere Schicht dazu.

Wozu führt das?

Der Preisauftrieb wirkt sich negativ auf die Budgets der Haushalte und die reale Kaufkraft aus. Es drückt auch die Unternehmensgewinne. Einige Zentralbanken sind sehr aggressiv geworden. Mancherorts steigen die Zinsen sehr schnell. In den USA sind die Hypothekenzinsen stark nach oben gegangen.

Was bedeutet das für die Verbraucher?

Die Verbraucher kommen aus vielen Richtungen unter Druck. Ich habe mein Haus hier in Großbritannien mit variablen Zinsen finanziert. Jedes Mal, wenn die Bank of England den Leitzins erhöht, bekomme ich ein Schreiben von meiner Bank, dass meine Zinsen steigen. Haushalte, die an wenig Inflation und sehr niedrige Zinsen gewöhnt waren, müssen auf einmal mit Inflation bei lebensnotwendigen Gütern wie Nahrungs­mitteln und Energie sowie steigenden Raten für ihre Hypothek klarkommen.

Wie wirkt sich das auf die Wirtschaft aus?

Die Bank of England sagt bereits, dass die britische Wirtschaft in den kommenden zwei Jahren nicht wachsen werde und eine Rezession möglich sei. Das britische Bruttoinlandsprodukt fällt bereits im Vergleich zum Vormonat. Eine Rezession wird immer mehr zum Risiko. Je aggressiver die Notenbanken werden, desto größer das Risiko. Je schneller sie auf ihrem neuen Weg voranschreiten, desto mehr unbeabsichtigte Nebenwirkungen wird es geben.

Wird sich der Kryptocrash auf das Finanzsystem insgesamt auswirken?

Ich habe das eine Kollegin gefragt, die mehr von Krypto versteht. Aus ihrer Sicht derzeit nicht. Aber wenn genug Schmerzen ertragen werden müssen, etwa in Form von Entlassungen in der Kryptowelt und der Unfähigkeit von Firmen, ihre Schulden zu bezahlen, entsteht auf einmal die Möglichkeit von Anstoßeffekten. Das könnten weitere unerwartete Nebenwirkungen sein.

Eine Menge junge Leute haben ihre Ersparnisse verloren und werden nicht so schnell wieder investieren.

Das ist ein interessanter Punkt und der Grund, warum ich denke, dass Kryptoassets den Boden noch nicht erreicht haben. Denn was ich von Leuten höre, die ich kenne, und den Marktkommentaren von Medien wie Bloomberg entnehme, ist, dass die Leute auf die nächste Kaufgelegenheit warten. Wir kennen jemand persönlich, der 60% verloren hat. Man sollte glauben, dass er nicht zurückkommt. Aber nein, keinesfalls, er sagt, dass er auf die nächste Kaufgelegenheit wartet. Das sei alles Teil davon, in Kryptowährungen zu investieren. Es gibt immer noch eine sehr spekulative Mentalität. Die Schmerzen sind einfach noch nicht groß genug. Wahrscheinlich müssen die Leute sich erst wieder einkaufen und Bitcoin unter 10000 Dollar fallen, damit sie erneut Geld verlieren und es zu einem Umschwung kommt, nach dem sie sagen: Das fasse ich nicht mehr an.

Andererseits verteilen Regierungen weiter Geld, sei es in Form des Erlasses von Studienkrediten oder Rentenerhöhungen. Wirkt das nicht inflationär?

Persönlich denke ich, dass die Maßnahmen gezielter sein sollten. Es gibt Leute, die sich in einer verzweifelten Lage befinden – nicht wegen den Studienkrediten, sondern wegen den steigenden Lebenshaltungskosten. Dagegen halte ich die Idee der britischen Regierung, die Renten im Einklang mit der Inflation zu erhöhen, für verfehlt, wenn die Arbeitnehmer zur Lohnzurückhaltung aufgefordert werden. Ich hielte eine gezielte Unterstützung der Rentner, die auf die staatliche Rente angewiesen sind und keine anderen Einnahmen haben, für sinnvoller. Es ist ein komplexerer Prozess, aber es ist machbar.

Warum macht man es dann nicht?

Ich glaube, die britische Regierung weiß, dass vor allem ältere Menschen für die Konservativen stimmen. Den Jüngeren sagt man dagegen, dass sie keine Lohnerhöhung bekommen können, die der Teuerungsrate entspricht, weil das nicht gut für die Wirtschaft insgesamt wäre. Die Konservativen sagen, dass man die Steuern senken müsse. Ich denke, dass man die Steuern erhöhen müsste, um gezielte Unterstützungsmaßnahmen für Bedürftige zu ermöglichen – finanziert von Leuten wie mir, die es sich leisten können. Auf diese Weise wäre ein moralischer Haushaltsausgleich möglich.

Aber wie sind wir hier eigentlich gelandet?

Durch das Handeln der Regierungen und Zentralbanken. Da wird gefragt, ob die Fed einen Fehler machen wird. Sie hat schon die vergangenen 12 bis 18 Monate einen Fehler gemacht, die EZB ebenso, weil sie viel zu lange eine viel zu lockere Geldpolitik beibehalten haben. Sie haben zugelassen, dass der Geist der Inflation aus der Flasche entkam. Jetzt versuchen sie verzweifelt, ihn wieder hineinzu­bekommen. Der Fehler ist also schon gemacht worden. Aber wenn man ehrlich ist, hat die Fed schon in den vergangenen 30 Jahren Fehler gemacht, weil sie die Märkte immer wieder gerettet hat. Jedes Mal, wenn am Aktienmarkt die Kurse einknickten, kam die Fed und stellte niedrigere Zinsen in Aussicht. Das hat kein gesundes Finanzsystem hervorgebracht.

Könnte sich das Ende des Zeitalters der Notenbanker nähern?

Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Wie Sie wissen, haben Notenbanker in der Vergangenheit viele Fehler gemacht.

Vielleicht das Ende der Glorifizierung der Notenbanker?

Vielleicht. Die Notenbanker sind auf einer Welle sinkender Inflation geritten, die sie in gewisser Weise selbst mit herbeigeführt haben. Sie war aber auch ein natürliches Phänomen, das sowieso eingetroffen wäre. Dann kamen sie mit diesen Inflationszielen von 2 % an.

War das eine gute Idee?

Sie haben ein Problem dadurch geschaffen, dass sie Inflationsziele hatten, die zu niedrig angesetzt waren. Aus meiner Sicht sind Inflationsziele ohnehin nicht unbedingt eine gute Idee. Das Leben der Notenbanker wird auf jeden Fall schwieriger werden, wenn die Teuerungsrate steigt. Aber die Regierungen sind vermutlich mehr für die Lage verantwortlich, in der wir uns jetzt befinden. Sie sind nur ziemlich gut darin, anderen die Schuld zuzuschieben. Die Notenbanker haben den Regierungen lediglich ermöglicht, ihre Pläne in die Tat umzusetzen, indem sie Staatsschulden aufgekauft haben.

War das während der Pandemie nicht genau das Richtige?

Während der Pandemie mag eine so lockere Fiskalpolitik der Regierungen gerechtfertigt gewesen sein. Hätten sie das nicht getan, wären die Volkswirtschaften in einer wesentlich schlechteren Situation gewesen. Aber das Ganze hat sich einfach viel zu lange fortgesetzt. Die Notenbanker hätten viel schneller wieder zur Normalität zurückkehren müssen. Aus irgendwelchen Gründen herrschte unter ihnen eine kollektive Angst davor, diese Stützungsmaßnahmen einzustellen. Vermutlich fürchteten sie den Vorwurf, dass sie dadurch die nächste Rezession auslösen.

Als die USA die Pandemie hinter sich ließen, stieg die Nachfrage. Zusätzlich dazu fing die Regierung an, noch mehr Geld unter die Leute zu bringen.

Ich habe nicht verstanden, warum sie das getan haben. Ich habe es zu diesem Zeitpunkt einfach nicht für notwendig gehalten. Es hat zweifellos auf die eine oder andere Weise zur Inflation beigetragen.

Themenwechsel: Was passiert derzeit in China?

Die chinesische Wirtschaft scheint sich zu erholen. Nachdem im April Ebbe herrschte, waren die Daten für Mai besser, insbesondere wenn man auf die Daten zum Kredit- und Geldmengenwachstum blickt. Die Dinge könnten sich bessern.

Der Staat setzt wieder auf Stimuli.

Es gibt wieder Maßnahmen zur Ankurbelung der Konjunktur – im Umfang von 5,5% des BIP des vergangenen Jahres. Bislang wurde das noch nicht so richtig umgesetzt. Vielleicht hatten die Lokalregierungen nicht das Selbstvertrauen, damit anzufangen. Gut möglich, dass es im zweiten Halbjahr passiert. Wenn dann auch noch die neuen mRNA-Impfstoffe kommen, dann könnte sich China im zweiten Halbjahr im Vergleich zum Rest der Welt in die andere Richtung entwickeln.

Warum sieht man China nicht so, wie man Russland sieht? Es scheinen andere Regeln zu gelten, wenn es um Menschenrechte geht.

Der große Unterschied zwischen China und Russland ist, dass China für die US-Wirtschaft eine Rolle spielt. Russland tut das nicht. Sanktionen gegen Russland sind für die Vereinigten Staaten sehr einfach. Die Exporte in die Ukraine, nach Belarus und Russland summierten sich 2020 auf 0,03% des Bruttoinlandsprodukts. Für Europa lag dieser Wert bei 0,8%. Es hatte für die Amerikaner keine Konsequenzen, diese Sanktionen zu verhängen. Sanktionen gegen China wären etwas völlig anderes. Deshalb gibt es da große Zurückhaltung. Die Maßnahmen, die von der Trump-Regierung ergriffen wurden, haben der US-Wirtschaft geschadet.

Sie wurde aber von der Regierung Biden nicht aufgehoben.

Nein, aber ich denke, dass Trump da einfach vorgeprescht ist, weil er ein totaler Ignorant ist, was wirtschaftliche Zusammenhänge und die Auswirkungen der Maßnahmen auf Farmer und die Industrie angeht. Schwerwiegende Sanktionen hätten große Auswirkungen auf die US-Wirtschaft – auf die Beschaffungsketten, auf die Exporte und auf US-Firmen, die in China investiert haben. Auch für die deutsche Wirtschaft wäre das so. Es ist eine Frage der Wirtschaftsinteressen. Wie Bill Clinton sagte: It’s the economy, ­stupid!

Wandel durch Handel hat nicht funktioniert. Stattdessen droht Ärger mit einem erstarkenden China.

Wenn man zwei konkurrierende Systeme wie das amerikanische und das chinesische hat, gibt es keinen Grund, warum sie nicht zur Koexistenz in der Lage sein sollten. Voraussetzung ist, dass keine Seite versucht, die andere zu dominieren. Man könnte behaupten, dass Amerika versucht, sich der ganzen Welt aufzudrängen, so wie es die Briten jahrhundertelang getan haben. Und China versucht, seine Einflusssphäre auszudehnen.

Wie die Europäer im 19. Jahrhundert.

Solange China nicht versucht, sich die Vereinigten Staaten einzuverleiben und dort eine Revolution anzuzetteln, können die beiden Systeme nebeneinander existieren. Schwierig wird es immer dann, wenn solche Weltreiche miteinander kollidieren, etwa wenn es um die Kontrolle über Rohstoffe in Afrika geht. Als der Westen im August vergangenen Jahres aus Afghanistan abgezogen ist, habe ich mich gefragt, was die Reaktion von Ländern wie Taiwan sein würde. Wir haben die Menschen in Afghanistan den Taliban überlassen. Wir haben sie einfach aufgegeben. In Asien wird man sich überlegt haben, wie ernst man die Beistandsversprechen der Vereinigten Staaten nehmen kann. Ich dachte, dass eine Menge Länder – nicht Taiwan – zu dem Schluss kommen würden, dass sie keine Alternative zu einer Annäherung an China haben.

Was ist mit Taiwan?

Die Taiwan-Frage ist etwas anderes. China ist der Meinung, dass Taiwan China gehört, und lässt sich durch nichts davon abbringen. Es scheint so zu sein, dass eine Mehrheit in Taiwan nicht Teil der Volksrepublik werden will. Und der Rest der Welt hat ihnen versprochen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Es ist eine verfahrene Situation. Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt China die Grenzen austesten wird oder auf etwas reagieren wird, das die Amerikaner getan haben und aus Sicht Pekings den Interessen Chinas in der Region schadet. Aber irgendwann wird es dazu kommen und es bedarf großer diplomatischer Verhandlungskunst, eine Auseinandersetzung zu verhindern. Vielleicht ist es ja ein bisschen so wie die Situation in der Ukraine.

In welcher Hinsicht?

Aus unserer Perspektive in Europa betrachtet ist das eine verabscheuungswürdige Invasion eines souveränen Landes. Aus der russischen Perspektive – und aus der Perspektive vieler anderer Länder, die Russland nicht verurteilen – sieht es ganz anders aus. Da sieht man Teile der Ukraine als einen Teil Russlands, die Leute dort, die Teil von Russland sein wollen und die man befreien will. Jeder geht mit seiner eigenen Perspektive an solche Dinge heran. Die Welt ist geteilt, was die Haltung Russland gegenüber angeht. Wir sind zwar der Meinung, dass alle gegen Russland sind, weil wir in Europa diese Einstellung haben. Aber das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. China, Indien, fast alle Schwellenländer verurteilen Russland nicht. Es ist fast so, als stünden die Industrieländer gegen die Entwicklungsländer.

Das Interview führte

BZ+
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