Keine Entwarnung für den Dax
Von Christian Henke *)
Ende Juni ist ein turbulentes Halbjahr mit deutlichen Kursverlusten zu Ende gegangen. Die Performance des deutschen Leitindex fiel in den ersten sechs Monaten katastrophal aus. Im Juli haben sich die Schnäppchenjäger zurückgemeldet und konnten so die Tränen der Anleger ein wenig trocknen. Allerdings bleibt es im Augenblick fraglich, ob dem Dax in diesem Jahr noch die Trendwende gelingt.
Die Vereinigten Staaten befinden sich nun offiziell in einer Rezession. In zwei Quartalen in Folge war die Wirtschaftsleistung jenseits des Atlantiks negativ. Dies wird allgemein als technische Rezession bezeichnet. Somit ist die seit längerem erwartete Konjunkturabkühlung da und die makroökonomische Katze aus dem Sack. Ebenfalls weitgehend eingepreist sind weitere Zinserhöhungen der US-Notenbank Fed. Die Währungshüter haben die Zinswende eingeläutet und versuchen nun, die Inflation in die Knie zu zwingen. Auch die Europäische Zentralbank hat endlich reagiert und erstmalig seit elf Jahren an der Zinsschraube gedreht. Die Frage ist nun, ob es in den USA und somit auch weltweit zu einem Soft oder Hard Landing der Wirtschaft kommt. Dies hängt unter anderem von den Energiepreisen ab. Vor allem eine mögliche Energiekrise auf dem alten Kontinent könnte fatale Folgen für die Weltkonjunktur haben.
Damoklesschwert Gaskrise
Unmittelbar nach dem Einmarsch Russlands in das Nachbarland Ukraine hat der Westen Sanktionen gegen Russland beschlossen. Und nun könnte sich Moskau dafür rächen. Erst kürzlich hatte der wartungsbedingte Gaslieferstopp die Finanzmärkte verunsichert und die Risiken der Energieabhängigkeit gegenüber Russland aufgezeigt. Zwar fließt nun wieder Gas durch die Pipeline Nord Stream 1, allerdings nicht so viel wie gewohnt und vor allem wie benötigt. Im Sommer scheint eine Energiekrise noch nicht so greifbar zu sein. Dies könnte sich jedoch in den kommenden Monaten schlagartig ändern. Die Gaspreise ziehen an, und die Schieflage des Gasversorgers Uniper zeigt, wie wichtig der genannte Rohstoff für die heimische Wirtschaft ist. Fließt weiterhin nur ein Bruchteil der üblichen Mengen durch die Pipelines, könnte dies nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch weltweit zur einer Konjunkturabkühlung führen.
Seit Anfang dieses Jahres geht es für den deutschen Aktienmarkt infolge der bekannten Belastungsfaktoren deutlich abwärts. Unter Berücksichtigung der Saisonalität ist dies keine allzu große Überraschung. 2022 ist ein sogenanntes Zwischenwahljahr. Auch die europäischen Märkte bekommen diesen Zeitraum des US-Wahlzyklus zu spüren. Die Zwischenwahljahre weisen eine hohe Wahrscheinlichkeit für fallende Notierungen auf. Seit Ende April befindet sich der Dax in einer sehr schwachen saisonalen Marktphase, die bis Anfang Oktober andauern könnte. In den zurückliegenden 34 Jahren musste das heimische Börsenbarometer in 75% der Fälle den Rückzug antreten und verzeichnete ein durchschnittliches Minus von rund 22%. Bislang stehen seit April Kursverluste von etwa 6% zu Buche. Wie bereits erwähnt, haben die Schnäppchenjäger zuletzt wieder zugegriffen. In den kommenden beiden Monaten könnte es jedoch wieder ungemütlich werden. In der Vergangenheit hat der Dax im August und September rund 10% bzw. 9% an Wert eingebüßt.
Trend mittelfristig intakt
Bei den hier beschriebenen saisonalen Mustern handelt es sich um die Analyse vergangener Kursdaten, sie stellen daher nur eine Wahrscheinlichkeit hinsichtlich der künftigen Entwicklung der Märkte dar. Das Saisonalitäts-Trading hat zunehmend an Beliebtheit gewonnen. Dennoch sollte ein Filter verwendet werden, bevor solche saisonalen Muster gehandelt werden. Hier empfehlen sich beispielsweise gleitende Durchschnitte, die auch als Marktbreite-Indikator verwendet werden können. Am Beispiel des deutschen Leitindex wurden die einfachen Durchschnitte der letzten 20, 50 und 200 Tage gewählt. Zurzeit hält sich der Dax in einer Erholung auf. Die Mehrheit der Indexmitglieder notiert oberhalb der 20-Tage-Glättungslinie (75%). Mittelfristig ist dagegen der Abwärtstrend intakt. 58% der Aktien aus der ersten Börsenliga liegen unter dem 50-Tage-Durchschnitt und 82% unterhalb der oft zitierten 200-Tage-Linie.
Kommen wir nun abschließend zur charttechnischen Beurteilung der Lage im Big Picture auf Monatsbasis. Die jüngste Erholung macht sich bemerkbar. Infolgedessen konnte der mittelfristige Aufwärtstrend aus dem Jahr 2003 verteidigt werden. Dieser verläuft bei aktuell 12940 Punkten. Im Augenblick streiten sich Bullen und Bären um das markante Hoch aus dem Jahr 2017 bei 13534 Zählern. Die beiden Widerstände sollten nach Möglichkeit zurückgewonnen werden. Anschließend könnte es dann in Richtung der Unterseite der ehemaligen Schiebezone bei 14800 Punkten gehen.
Zurzeit gehen die Marktteilnehmer davon aus, dass alle schlechten Nachrichten eingepreist sind. Dennoch ist die charttechnische Kuh noch nicht vom Eis. Kommt es in den kommenden Wochen und Monaten zur befürchteten Energiekrise, könnte der erwähnte Aufwärtstrend schnell überrannt werden. In diesem Szenario wäre dann das Zwischentief bei 11331 Punkten von Oktober 2020 das Ziel auf der Unterseite.
*) Christian Henke ist Senior Market Analyst bei IG Europe.