„Kleine Werte die bessere Assetklasse“
Christopher Kalbhenn.
Herr Boydak, es gibt eine intensive Diskussion unter Marktexperten über eine Bodenbildung am Aktienmarkt. Aufwärtsbewegungen wurden zuletzt vielfach als Bärenmarktrallys bezeichnet. Wie stehen Ihrer Einschätzung nach die Aussichten, dass der Boden bald erreicht wird?
Es fehlt derzeit nicht gerade an Unsicherheiten, die Narrative haben sich über die vergangenen Monate immer wieder verändert. Der Markt war darauf fokussiert, dass sich die Inflation beruhigen muss, sich die Lieferkettenprobleme legen müssen und die Notenbanken dann nicht ganz so stark die Leitzinsen erhöhen müssen. Es geht um eine Gleichgewichtsfindung in dem Sinne, dass die Notenbanken die Inflation in den Griff bekommen, ohne eine scharfe Rezession auszulösen. Das ist ein schmaler Grat. Deswegen geriet der Markt zuletzt unter Druck, als die Fed signalisierte, dass sie bis auf weiteres eine restriktive Linie fahren wird. Deswegen sind auch die Zinsen gestiegen. Wir müssten nun nahe an dem Punkt sein, dass die Inflation nachgibt und sich in Bezug auf die Zinserwartungen in den Folgemonaten eine gewisse Beruhigung einstellt.
Die neuesten Inflationsdaten des Euroraums waren aber nicht gerade ermutigend.
Europa hinkt in der Entwicklung noch hinterher. Die Inflation des Euroraums hat mit 9,1% ein weiteres Rekordhoch erreicht, die EZB muss noch handeln. Durch das Energiefiasko hat die Region ihre besonderen Probleme. Entscheidend ist jedoch etwas Anderes. Wenn man das Konsumentenvertrauen anschaut, sind wir am Boden. Sofern sich die Lage nicht weiter verschlechtert, würde ich sagen, dass der Boden erreicht ist. Entscheidend ist, wie sich der Konsument in den kommenden Monaten verhält. Wenn sich die Inflation beruhigt, ein Soft Landing gelingt und das verfügbare Einkommen der Konsumenten nicht von der Inflation aufgezehrt wird und sie wieder Vertrauen fassen, könnte das Schlimmste überstanden sein. Das ist aber noch offen.
Was spricht denn für in absehbarer Zeit sinkende Inflationsraten?
Die Preise kommen ja bereits zurück. In den zurückliegenden zwölf Monaten sind beispielsweise die Stahlpreise um 40% gesunken, die Preise für Weizen und Kupfer um 37% und 30%, der Fracht-Container-Index liegt 75% unter seinem Hoch. Wenn wie gesagt sich das Gleichgewicht einstellt, können wir uns als Investoren wieder an der Wirtschaftsleistung orientieren. Die Unternehmen sind dynamisch, sie passen sich kraftvoll an die Gegebenheiten an.
Wie beurteilen Sie die Gewinnentwicklung?
Im zweiten Quartal war die Umsatzentwicklung recht gut, während die Gewinnentwicklung aufgrund der Kostenseite eher schwächer ausgefallen ist. Wenn die Unternehmen die Preise weiter erhöhen und auf Sicht die Kosten wieder sinken, könnte es im vierten Quartal 2022 sowie im ersten Quartal 2023 wieder eine gute Ergebnisentwicklung geben. Aber auch das wird nicht nachhaltig sein. Von übergeordneter Bedeutung wird das Verhalten des Konsumenten sein.
Wie sollte man sich am Aktienmarkt positionieren?
Wenn man einen langfristigen Horizont hat, kauft man Unternehmen, deren Aktien am Boden liegen und die das größte Potenzial nach oben haben. Der Markt ist derzeit sehr auf die größten Werte fokussiert. Interessant sind aber vor allem die Small und Mid Caps, deren Aktien am Boden liegen. Es ist bemerkenswert, wie verzerrt die Blicke teilweise sind. Der MSCI World ist zu 70% in den USA gewichtet. Auf Dollar-Basis hat er seit dem Januar 2021 eine Rendite von 0%, in Euro gerechnet ist er mit 20% im Plus. Apple ist im MSCI höher gewichtet als der gesamte britische Aktienmarkt. Auch in Europa ist alles auf die Large Caps fokussiert.
Sie erwarten also ein Comeback der kleineren Werte.
Chancen bieten Small und Mid Caps, die ein gutes Geschäftsmodell und eine gute Profitabilität haben. Kurzfristig laufen die kleineren Werte nicht gut, aber wenn sich die Gesamtlage verbessert, werden diese Werte nach oben schnellen. Derzeit herrscht noch der Angst-Trade, die Investoren parken ihre Mittel in vermeintlich sichere Bereiche des Marktes. Sobald sich die Stimmung dreht, wird umgeschichtet. Es ist allerdings fraglich, ob man es hinkriegt, zum richtigen Zeitpunkt in die Werte von langfristig aussichtsreichen Unternehmen zu investieren. Dieses Timing beziehungsweise das rechtzeitige Umschichten sind letztlich nicht beherrschbar. Wir hatten seit 2018 mehrere Phasen mit Unsicherheiten mit abwechselnden Phasen, in denen Small und Mid Caps gut beziehungsweise weniger gut liefen. Kleine Werte sind die bessere Assetklasse, weil die Unternehmen dynamischer wachsen, aber es gab eben die Phase vieler aufeinanderfolgender Krisen. Wenn sich das legt, werden die kleineren Werte deutlich besser abschneiden.
Was müssen kleinere Werte bieten, um für Sie interessant zu werden?
Das Wichtigste ist ein Geschäftsmodell, das gutes strukturelles Wachstum generiert. Ein Beispiel ist die norwegische Atea, ein mit Bechtle und Cancom vergleichbares IT-Service-Unternehmen. Es profitiert vom Digitalisierungstrend und weist ein überdurchschnittliches Wachstum auf. In fünf Jahren wird es seinen Gewinn um mindestens 50% gesteigert haben. Auf dieser fundamentalen Basis kann man eine qualifizierte langfristige Kaufentscheidung fällen. Ob die Aktie in den nächsten sechs Wochen gut laufen wird, ist eine andere Frage. Auf Basis der Schätzungen für 2023 liegt das KGV des Titels bei 12, und wenn in fünf Jahren ein um 50% höheres Ergebnis erwartet wird, ergibt sich ein KGV von nur 8.
Wie gehen Sie bei stärkeren Kursrückgängen vor?
Wenn eine unserer Aktien fällt, müssen wir überprüfen, ob unsere Schätzungen noch stimmen, ob das Geschäftsmodell noch funktioniert. Sind keine wesentlichen Verschlechterungen festzustellen, kann man antizyklisch investieren.
Welche Sektoren beziehungsweise Bereiche sind besonders interessant?
Gerade der IT-Bereich, etwa die Segmente IT-Infrastruktur und IT-Dienstleistungen. Gelegenheiten bieten gestandene Unternehmen, deren Aktienbewertungen noch normal sind beziehungsweise bei denen man nicht zu viel Fantasie bezahlen muss. In vielen Bereichen kann man interessante Unternehmen finden, beispielsweise in der Medizintechnik. Der Sektor hat derzeit Probleme mit den gestiegenen Kosten; die Unternehmen können teilweise aus regulatorischen Gründen ihre Preise nicht direkt anpassen. Aber Medizintechnik wird weiter gebraucht, nicht zuletzt aufgrund der Überalterung der Bevölkerung.
Können Sie Beispiele nennen?
Die britische Smith & Nephew, ein Orthopädiespezialist, oder auch Fresenius Medical Care. Die Aktie ist auf den tiefsten Stand seit rund zehn Jahren gefallen, unter anderem weil das Unternehmen mit Kosten- und Personalmangelproblemen zu kämpfen hat. Dialyse ist aber nicht diskretionär. Das kann man mal anschauen. Die Medizintechnik ist eine interessante Branche, auch wenn die Unternehmen eine schlimme Phase hinter sich haben.
Gibt es weitere Bereiche, die Sie hervorheben würden?
Interessant ist auch der Öl-Service-Bereich, etwa der amerikanische Marktführer Schlumberger. In der Ölbranche müssen Investitionen, die nötig waren, aber lange zurückgehalten wurden, nun vorgenommen werden. Öl wird nach wie vor gebraucht, die Ölnachfrage ist in den zurückliegenden Jahren konstant geblieben.
Welche Top-Holdings haben Sie?
Zum Beispiel die britische Mears. Das ist ein kleiner britischer Gebäudedienstleister, der sich um das Management von Sozialeinrichtungen und Flüchtlingsheimen kümmert. Das Unternehmen hat langfristige Verträge, so dass die Ergebnisse gut vorhersehbar sind. Die Bilanz ist sehr stark. Mears wird langfristig hohe Dividenden ausschütten und Aktienrückkäufe tätigen, weil sie über umfangreiche überschüssige Barmittel verfügt.
Das Interview führte