Nicht nur der Krieg bietet Anlass zur Vorsicht
Vor einem Jahr hat Russland die Ukraine überfallen. Schnell war nach Beginn des Kriegs der Begriff der Zeitenwende in aller Munde. Und tatsächlich hat sich ein Paradigmenwechsel in Politik und Teilen der Gesellschaft vollzogen. Vor allem in Deutschland wird die Bedrohung durch autoritäre Länder und die Notwendigkeit militärischer Verteidigung vielfach neu bewertet. Doch welche Auswirkungen hat der Konflikt bislang auf Volkswirtschaften und Aktienmärkte gehabt? Zeit für eine Bilanz – trotz des unermesslichen Leids für Soldaten und Zivilisten beider Kriegsparteien.
Natürlich hat die russische Invasion die ökonomische Entwicklung in vielen Ländern deutlich gebremst. Die Volkswirtschaften im Euroraum dürfte der Krieg 2022 und 2023 jeweils einen Prozentpunkt an Wachstum kosten. Ungeachtet dessen ist der Einbruch im Euroraum moderater ausgefallen als zunächst angenommen. Deutschland beispielsweise ist meilenweit vom Horrorszenario eines Minus von 9,4% entfernt, das das Prognos-Institut im Sommer gezeichnet hatte. Dazu hat sicher beigetragen, dass die Fiskalpolitik aufgrund der Coronavirus-Pandemie ohnehin noch im Krisenmodus und daher noch in Übung beim Schnüren von Wumms- und Doppel-Wumms-Rettungspaketen war.
Auch hat sich Europa schnell von russischen Energielieferungen unabhängig gemacht. Private Haushalte, Gewerbe und Industrie haben vor allem im letzten Quartal 2022 den Gasverbrauch verglichen mit dem Durchschnitt der vergangenen Jahre um mehr als 20% reduziert, ohne dass die Produktion deutlich eingebrochen wäre. Gleichzeitig wurden etwa mit Norwegen neue Lieferanten erschlossen, wodurch sich der Ausfall der russischen Lieferungen weitgehend kompensieren ließ. Der Gaspreis ist wieder deutlich zurückgegangen.
Doch nicht nur die Volkswirtschaften Europas sind bislang einigermaßen glimpflich davongekommen, sondern auch die Unternehmen. In dieser Hinsicht hat der Zeitpunkt des russischen Überfalls auf die Ukraine eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Nach der Coronavirus-Krise zog die Nachfrage an, die Industrie hatte aber mit Lieferkettenschwierigkeiten zu kämpfen und konnte die Nachfrage in vielen Bereichen gar nicht befriedigen. Daher waren die Auftragsbücher gut gefüllt, und die Unternehmen hatten allen Grund, die Produktion trotz der mit dem Krieg verbundenen Unsicherheiten aufrechtzuerhalten. Auf die Gewinn-und-Verlust-Rechnungen hat sich der Konflikt daher bislang noch nicht gravierend ausgewirkt.
An den Kapitalmärkten war das übliche Muster zu beobachten: Angesichts des geopolitischen Schocks wurde zunächst eine Risikoprämie eingepreist, vor allem bei europäischen Vermögenswerten und dem Euro. Als sich im Verlauf des vergangenen Jahres dann immer deutlicher abzeichnete, dass sich das für Wirtschaft und Unternehmen befürchtete Katastrophenszenario nicht materialisieren wird, begann die Risikoprämie – begleitet von einer deutlichen Aufhellung bei den Stimmungsindikatoren – zu erodieren, womit die Unterbewertung gegenüber dem US-Markt verringert wurde.
Längerfristig aber zählen absolute Größen und nicht der Vergleich mit niedrigen Erwartungen. Und auch wenn der Krieg nicht die zu Beginn befürchteten desaströsen wirtschaftlichen Auswirkungen angenommen hat, so bleibt eine deutlich restriktivere globale Geldpolitik weltweit. Und die dürfte angesichts der hartnäckigen Inflation noch für geraume Zeit erhalten bleiben. Die Marktteilnehmer freilich spielen derzeit ein Szenario aus einer weiterhin nicht einbrechenden Wirtschaft, einer sich abschwächenden Inflation und somit wieder sinkenden Zinsen. Kurzum: Eine Goldilocks-Wirtschaft, in der die Bewertungsniveaus wie zuvor wieder steigen können. Weitaus realistischer ist jedoch die Prognose, dass bei gleichbleibender wirtschaftlicher Dynamik die Zinsen hoch bleiben müssen, um die Teuerung effektiv zu bekämpfen. Und vor diesem Hintergrund wäre das Bewertungsniveau in Europa nach der jüngsten Aufwärtsbewegung weitgehend ausgereizt. Für die USA gilt dies dann erst recht. Und wenn es für den Aktienmarkt eine Zeitenwende gegeben hat, dann besteht sie darin, dass die immer weiter fallenden Anleihenrenditen und damit die immer weiter steigenden Bewertungsniveaus zumindest zunächst einmal passé sind. Auch bei den Gewinnen – denen die Kurse langfristig immer folgen – dürfte der Spielraum nach oben begrenzt sein. Bislang haben die Schätzungen von der Spitze gerechnet zwar nur um rund 5 % nachgegeben, manifestiert sich die Krise dann aber doch irgendwann, könnten die Gewinne deutlich unter Druck geraten. Setzt sich das alte Muster fort, sollte dann verhaltenes Wachstum bei gleichzeitig starker Inflation und hohen Zinsen einen kräftigen Anstieg verhindern.
Vor diesem Hintergrund scheint es ratsam, dort zu investieren, wo die Gewinnschätzungen am ehesten erreichbar und die Bewertungsniveaus gleichzeitig akzeptabel sind. Um die zyklische Komponente abzubilden, bieten sich die Banken an. In den Kursen ist viel Negatives eingepreist und selbst in einem rezessiven Szenario dürften die Gewinne angesichts des gestiegenen Zinsniveaus nicht sonderlich unter Druck kommen. Auch im Gesundheitssektor finden sich robuste Geschäftsmodelle. Gleichzeitig ist der Sektor wieder attraktiv bewertet, nachdem Anleger dieses 2022 noch attraktive Versteck mittlerweile aufgegeben haben. Wagemutigere Investoren könnten sich in der Automobilindustrie umsehen, wo eine hohe Risikoprämie enthalten ist. Dort liegt der Durchschnittspreis bei einigen Premiumherstellern derzeit rund 50 % höher als 2019. Der Markt erwartet eine deutliche Korrektur, die sich auch in den Kursen widerspiegelt, während die Anbieter mit keinem sonderlichen Rückgang rechnen.
Unter dem Strich sollten schon alleine anhaltend hohe Inflation und Zinsen sowie weitgehend ausgereizte Gewinne und Bewertungen für eine gewisse Vorsicht sorgen. Noch bedenklicher müsste Anleger aber stimmen, dass der Krieg an den Aktienmärkten faktisch keine Rolle mehr spielt. Schließlich ist das Problem einer womöglich zusammenbrechenden Rohstoffversorgung in Europa weitgehend gelöst. Eine erfolgreiche russische Frühjahrsoffensive könnte jedoch schnell für eine neue Lage sorgen. Daher sollten Investoren nicht davon ausgehen, dass die Aktien-Rally der vergangenen Wochen in der Form weitergeht. Langfristig orientierte Anleger sollten sich freilich nicht aus dem Konzept bringen lassen, angesichts des auf Sicht zu erwartenden höheren Zinsniveaus aber noch etwas stärker auf die Bilanzqualität achten.