Underperformance

Siemens gilt als grotesk fehlbewertet

Es scheint das Siemens-Schicksal zu sein: Am Aktienmarkt ist der Konzern seit vielen Jahren unterbewertet. Warum setzt sich dies trotz der erfolgreichen Aufspaltung fort?

Siemens gilt als grotesk fehlbewertet

Von Michael Flämig, München

Aktienmärkte haben kein Herz, dafür sind sie auch nicht da. Hirn allerdings sollten sie schon haben. An der Rationalität der Börse kann aber zweifeln, wer den Aktienkurs von Siemens im ablaufenden Geschäftsjahr (30. September) betrachtet. Die Underperformance auf fast jeder Vergleichsebene ist drastisch, obwohl die Münchner ihre Konkurrenten im operativen Alltagsgeschäft ausstechen.

Sogar Analysten raufen sich die Haare. „Siemens ist die am meisten fehlbewertete Aktie unter jenen Werten, die wir abdecken“, schreiben die Berenberg-Experten. Hinsichtlich praktisch jeder Vergleichsgröße werde dem Konzern nur der halbe Wert der Wettbewerber zugestanden. Ihre J.P.-Morgan-Kollegen stellten schon im August fest, der Kurs sei eine Kaufgelegenheit für langfristig orientierte Investoren.

Diese Einstellung spiegelt sich in den Kurszielen wider. Während die Siemens-Aktie seit Juli in der Region von 100 Euro dahindümpelt und den Xetra-Handel am Donnerstag mit einem Kursrückgang von 1,8% auf 99,06 Euro beendete, rufen J.P. Morgan und Berenberg 178 Euro und 175 Euro auf. Die Deutsche Bank hält 160 Euro für angemessen. Selbst Barclays, die durch eine Underweight-Einschätzung auffällt, liegt mit 95 Euro nicht weit unter dem aktuellen Niveau.

Nun gehört es zum Geschäftsmodell der Arbeitgeber von Analysten, den Handel mit Aktien anzukurbeln und meist hohe Kursziele festzuzurren. Bemerkenswert ist daher ein anderer Fakt: Siemens kommt auch im Vergleich zu anderen Firmen auf keinen grünen Zweig. Seit dem 30. September 2021 ist der Aktienkurs um 30x% gesunken. Dax40, Euro Stoxx 50 und S&P500 sind nur zwischen 12% und 18% im Minus.

Klar: Wer einen Investitionsgüterhersteller auf eine Stufe stellt mit Pharmafirmen, Konsumgüterspezialisten&Co., der kann gleich Äpfel und Birnen vergleichen. Dieses Argument zieht aber im Fall Siemens nicht. Denn der Vergleich von Äpfeln mit Äpfeln – also des Konzerns aus Bayern mit seinen direkten Wettbewerbern – bringt das gleiche Ergebnis. Eaton, Emerson, Johnson Controls, Mitsubishi Heavy Industries, Schneider oder Rockwell: Alle schnitten seit Oktober 2021 besser ab als Siemens. Das Verblüffende ist: So geht es cum grano salis seit vielen Jahren. Dabei hatte Siemens unter Chef Joe Kaeser das getan, was der Kapitalmarkt forderte: sich aufzuspalten.

Die Logik des Marktes

Welche Art der Vernunft also spiegelt die Bewertung wider?

Die einfachste Antwort ist: Siemens hat das, was der Kapitalmarkt wollte, nicht ausreichend umgesetzt. Tatsächlich wird immer wieder kritisiert, Siemens sei noch ein Konglomerat. Es ist richtig, dass der Konzern weiterhin 35% an Siemens Energy und vor allem 75,4% an Siemens Healthineers hält. Außerdem gehört mit Siemens Mobility die Bahntechnik zum Portfolio. Insbesondere ein Teilverkauf der Healthineers-Anteile oder die Trennung von Mobility würde den Kurs treiben, wenn dabei eine satte Ausschüttung herausspränge.

Das Management stellt sich zu Recht quer, und auch mittel- und langfristig engagierte Investoren sollten an derlei Finanzakrobatik kein Interesse haben. Denn mit der Corona-Pandemie werden die Gesundheitsausgaben stark steigen. Davon profitieren indirekt die Siemens-AG-Aktionäre. Warum diesen Geldstrom abschneiden? Außerdem winkt Healthineers eine Höherbewertung, wenn die Integration des Varian-Zukaufs klappt.

Mit der Bahntechnik hat Siemens den Fuß in der Tür eines Wachstumsmarkts, die Bekämpfung des Klimawandels wird die Ausgaben für Verkehrstechnik treiben. Außerdem ist das Geschäft perspektivisch aus Taxonomie-Sicht für Investoren relevant. Ein Festhalten an Siemens Energy ist aktuell deswegen alternativlos, weil niemand ein Interesse haben kann, das Unternehmen im Prozess der Gamesa-Komplettübernahme gegen die Wand zu fahren.

Dieses Argument zieht also nicht. Ein weiterer Rationalisierungsansatz: Siemens leidet darunter, im dritten Quartal aufgrund der Abschreibung von 2,7 Mrd. Euro auf den Energy-Anteil erstmals seit dem Jahr 2010 einen Quartalsverlust erlitten zu haben. Außerdem stößt manchem der Kauf des Gebäude-Softwarespezialisten Brightly für einen Preis von fast dem Neunfachen des Umsatzes auf. Zudem kostet der Abschied aus Russland mehr als 1 Mrd. Euro.

Auch diese Argumente überzeugen nicht. Russland-Kosten haben andere Firmen ebenfalls, und das Brightly-Multiple bewegt sich in der – wenngleich schwindelerregenden – Größenordnung anderer Software-Werte. Die Abschreibung ist ein Schlag ins Kontor, hat aber keine Cash-Relevanz.

Ein anderer Erklärungsversuch: Die gesamte Investitionsgüterindustrie hat aktuell am Kapitalmarkt keinen guten Stand. Das stimmt zwar, und es erklärt die Underperformance beispielsweise im Vergleich zum Dax40. Aber die Differenz zur unmittelbaren Konkurrenz bleibt ein Rätsel.

Mehr Gewicht haben drei weitere Ansätze. Erstens: Immer wenn US-Investoren Geld aus dem Euroraum abziehen, etwa weil sie eine Eskalation des russischen Angriffskriegs fürchten, leidet auch die Siemens-Aktie. Denn der Global Player, dessen Aktie hochliquide gehandelt wird, wird als Stellvertreter für alle Euro-Aktien gesehen. Diese US-Sichtweise folgt einer eigenen Logik und ist nur schwer zu ändern.

Zweitens haben viele Investoren den Wandel von Siemens zu einem Software-Anbieter in doppelter Weise nicht nachvollzogen. Einerseits ist unverstanden, wie stark die Siemens-Software ist. Andererseits kommen US-Investoren zwar mit IT-Firmen ihres angelsächsischen Universums klar. Aber das Internet of Things, dem Siemens sich mit einem anderen Geschäftsmodell als etwa Google verschrieben hat, ist unverändert erklärungsbedürftig.

Drittens: Einen Track Record operativer Performance können die Münchner nach der Aufspaltung nicht über so viele Quartale vorlegen, dass Anlagevehikel quasi blind investieren. Allerdings wäre an dieser Stelle mehr Analysebereitschaft angezeigt. Marktanteilsgewinne zeigen die Qualität. Beispiel drittes Quartal: Siemens legte in der Sparte Digital Industries organisch 12% zu und hängte die Konkurrenz ab, so die Deutsche Bank: Schneider 6%, Rockwell 7%, ABB Automation 3% und Emerson 4%.

Klar: Die Aktie leidet unter geopolitischen Risiken. Die anstehende Rezession bietet aber auch eine Chance. Siemens kann vorführen, dass es in neuer Aufstellung nicht mehr so konjunktursensibel ist.

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