„Wir haben einen neuen Superzyklus bei Öl“
Dieter Kuckelkorn.
Herr Khoman, der Brent-Ölpreis war zuletzt bis auf fast 80 Dollar gesunken, hat sich dann aber wieder deutlich erholt. Wie wird sich der Ölpreis im laufenden Jahr weiterentwickeln?
Nun, wir werden voraussichtlich unterschiedliche Entwicklungen in der ersten und in der zweiten Jahreshälfte beobachten können. In der ersten Jahreshälfte werden wir eine verstärkte Volatilität erleben, getragen von der Unsicherheit hinsichtlich der Konjunktur und der Ölnachfrage. Allerdings haben wir recht vielversprechende Frühindikatoren aus den USA gesehen und in China sehen wir eine recht kräftige Erholung. Und selbst für Europa sehen die Daten gar nicht so schlecht aus, begünstigt durch das warme und damit vorteilhafte Wetter. Es wird aber Unsicherheit geben hinsichtlich der konjunkturellen Abschwächung und darüber, wie sehr die Notenbanken noch auf die Bremse treten müssen. Daher wird sich Brent Crude in einer Preisspanne bis ungefähr 94 Dollar je Barrel bewegen.
Wie wird es dann in der zweiten Jahreshälfte weitergehen?
In der zweiten Jahreshälfte sieht es nach einem höheren Ölpreis aus, was voraussichtlich auf zwei Faktoren zurückzuführen sein wird. Der wichtigste Faktor ist dabei die Wiedereröffnung der chinesischen Volkswirtschaft nach der Lockdown-Phase. Diese dürfte kräftig ausfallen, was zu einem deutlichen Anstieg des Ölverbrauchs führen wird. Dies betrifft also die Nachfrageseite. Auf der Angebotsseite sehen wir ein hohes Maß an Inelastizität der Ölversorgung, denn es gibt nicht viel an freien Kapazitäten, die an den Markt gehen können, um die Nachfrage aus China zu bedienen. So verfügt die Opec kaum noch über freie Kapazitäten, sie hat zudem klargemacht, dass sie notfalls die Förderung kürzen wird, um den Ölpreis zu verteidigen. Und in den USA wurden im vergangenen Jahr große Mengen aus der strategischen Reserve auf den Markt geworfen. Dort heißt es nun, dass diese Mengen zurückgekauft werden, sobald der Ölpreis auf 72 Dollar sinkt, was die amerikanische Schieferölindustrie stützen soll. Insofern zeigt unser Modell eine Unterversorgung des globalen Marktes in der zweiten Jahreshälfte an. Die Fundamentaldaten sprechen dafür, dass wir ab der Jahresmitte einen deutlichen Anstieg des Ölpreises sehen werden. Wir gehen derzeit für das dritte Quartal von 112 Dollar und für das vierte Quartal von 109 Dollar aus. Wir glauben übrigens, dass derzeit der Markt das Ausmaß der Konjunkturerholung in China und damit des damit verbundenen kräftigen Anstiegs der Nachfrage nach Flugtreibstoffen und Diesel noch unterschätzt.
Was hat Ihrer Meinung nach zu der Inelastizität des Ölangebots und damit zu der Knappheit geführt?
Diese Knappheit lässt sich nicht nur bei Öl beobachten, sondern in weiten Teilen des Rohstoffsektors, was sich im Grunde auf die Jahre 2014 und 2015 zurückführen lässt. Damals begann der Siegeszug der ESG-Investitionen (Environmental, Social, Governance), der dazu geführt hat, dass den CO2– und energieintensiven Sektoren und anderen Bereichen mit hoher Umweltbelastung Investitionsmittel entzogen wurden, die dann in erneuerbare Energien und Biotechnologie umgeleitet wurden. Da allerdings im Energiemix CO2-intensive Energiequellen nach wie vor eine sehr große Bedeutung haben, hat dies zu erheblichen Herausforderungen geführt. Viele Kommentatoren führen die Energieknappheit auf den Ukraine-Krieg und Russland zurück. In Wirklichkeit hat diese Problematik deutlich früher begonnen, auch schon vor dem Beginn der Covid-19-Pandemie.
Wie schwerwiegend ist dieser Mangel an Investitionen?
Dieser Mangel an Investitionen ist überall zu beobachten, nicht nur in einigen Ländern. Die meisten Banken sind nicht mehr bereit, für langfristige Projekte in energieintensiven Sektoren wie Öl und Metalle Kredite zu gewähren. Etwas besser sieht es nur in China, den Kernländern der Opec und in den USA aus. In den USA geht es allerdings um die Schieferölindustrie, die nun Value für die Aktionäre stärker betont als Volumenanstiege. Daher sind wir auch langfristig für den Ölpreis optimistisch, weil die Nachfrage nach Öl aus sehr vielen Bereichen der Volkswirtschaften weiter hoch bleiben wird, bei gleichzeitig zu wenig Investitionen in die Ölindustrie. Wir haben somit einen neuen Superzyklus bei Öl und anderen Rohstoffen. Was die Welt also benötigt, sind neue umfangreiche Investitionen in fossile Energien wie Öl, Gas und sogar, zumindest in der kurzfristigen Perspektive, Kohle – auch wenn dies momentan nicht zeitgemäß klingt.
Anfang Februar ist die nächste Stufe der Sanktionen von EU und G7 gegen russische Energielieferungen, und zwar gegen Ölprodukte, in Kraft getreten. Seit Anfang Dezember vergangenen Jahres gibt es bereits die Sanktionen gegen Rohöl. Sind die Sanktionen erfolgreich oder besteht die Aussicht, dass sie noch erfolgreich sein werden? Und was sind die Folgen für Europa selbst?
Derzeit muss man sagen, dass es noch zu viele offene Fragen und zu wenig Antworten gibt. Wir wissen es also noch nicht. Ziel der neuen Sanktionen sind russische Ölprodukte wie Diesel, Jet- und Schiffstreibstoffe. Rund 60% der Lieferungen dieser Ölprodukte nach Europa stammten bisher aus Russland. Das ist eine gewaltige Menge, die Europa nun woanders beschaffen muss. Es ist nicht leicht, Lieferketten aufzubauen, weil die entsprechenden Produzentenländer bereits andere Kunden beliefern. Das wird also sehr kostspielig. Ich mache mir aber weniger wegen der beschlossenen Preisobergrenzen Sorgen, es geht vielmehr schlicht um die verfügbaren Mengen und um mögliche Beschaffungsquellen. Die Geschäfte von Konzernen wie BASF und Airbus, um nur zwei zu nennen, sind stark von der Verfügbarkeit der Rohölprodukte abhängig. Und wohl jede einzelne Fabrik ist zu einem gewissen Grad auf die Verfügbarkeit von Dieselkraftstoff angewiesen. Es müssen nun also wesentlich höhere Kosten getragen werden oder es muss die Produktion eingestellt werden.
Was könnten die Folgen sein?
Wir haben uns mit diesem Thema beschäftigt und es muss gesagt werden, dass Europa die Deindustrialisierung droht. Zwar sind beispielsweise die Gaspreise wieder zurückgekommen, im Vergleich zu früher ist Erdgas aber nach wie vor ein teurer Energieträger. Der europäische TTF-Gaspreis liegt derzeit bei etwas mehr als 50 Euro je Megawattstunde, vor dem Beginn der Energiekrise lag er bei lediglich 20 Euro. Dementsprechend haben europäische Unternehmen insbesondere aus dem Chemiesektor bereits angekündigt, dass sie ihre Produktion in Europa zurückfahren, weil die Chemie in hohem Maße von Gas abhängig ist.
Wo könnte Europa Ersatz für russische Ölprodukte finden?
Die Landkarte der Lieferbeziehungen auf dem Ölmarkt wird derzeit quasi neu gezeichnet, ohne dass es dazu offizielle Verlautbarungen gibt. Insbesondere indische Raffinerien liefern an Europa. Indische Raffinerien importieren russisches Öl, verarbeiten es zu Diesel und verschiffen dieses nach Europa.
Bekommt Russland die Folgen der Sanktionen deutlich zu spüren?
Zuletzt war im Januar das Defizit im russischen Staatshaushalt größer als von den meisten Ökonomen erwartet. Die Mittel, die der russische Staat aus dem Verkauf von Öl, Ölprodukten und Gas erzielt, gehen also zurück. Es gibt für Russland also schon Probleme. Im Lauf der Zeit verfestigen sich die neuen Lieferbeziehungen, die auf dem Energiemarkt entstehen, mit dem Ergebnis, dass Russland neue Abnehmer für seine Öl- und Gasexporte finden muss, weil Europa der größte Kunde war. Ab jetzt ist Russland auf Kunden im Osten, hauptsächlich China und Indien, angewiesen. Damit verschlechtert sich aber die russische Position in Verhandlungen über Preise, weil das Land über weniger potenzielle Alternativen verfügt. Würde beispielsweise China seine Politik plötzlich ändern, wäre das für Russland schlimm. Dieses Problem, das Russland hat, wird sich im Lauf der Zeit eher noch vergrößern.
Kommen wir noch kurz zu der wichtigen Frage der Gasversorgung Europas. Wie wird sich diese mit Blick auf den nächsten Winter entwickeln? Ist wieder mit einem starken Anstieg der Gaspreise zu rechnen, wie wir das 2022 hinnehmen mussten?
Wir hatten für 2022 prognostiziert, dass der Sommer von den Preisen her für die Verbraucher schwieriger sein wird als der Winter, wozu es ja dann auch gekommen ist. Gaspreise sind aber nun mal eine Funktion der Lagerbestände und diese waren in Europa fantastisch hoch, weil es den Europäern sehr gut gelungen ist, die Speicher zu füllen. Zeitweise konnten Länder wie Spanien mit seinen sechs LNG-Terminals keine weiteren Tanker mehr abfertigen, weil die Speicher komplett voll waren. Allerdings hat den größten Beitrag dazu geliefert, dass das Wetter auf der Seite der EU gewesen ist. So lagen die Temperaturen in Europa an fast jedem einzelnen Tag über dem langjährigen Durchschnitt. Zudem war es ein Segen für Europa, dass sich China so lange im Lockdown befand, was den Gasverbrauch reduzierte.
Was bedeutet das für die nächsten Monate?
Wir glauben, dass die harte Arbeit für die Europäer bei der Sicherstellung ihrer Gasversorgung im April erst richtig beginnt. Es wird sich als eine große Herausforderung herausstellen, die Lagerbestände aufzufüllen und so die Versorgung für den nächsten Winter sicherzustellen. Wenn sich die „Wiedereröffnung“ der chinesischen Wirtschaft mit großer Dynamik fortsetzt, dann wird China im Wettstreit um verfügbares Gas als Konkurrent auftreten. Die nächsten sechs bis zwölf Monate werden also schwierig und die Gaspreise werden deutlich steigen. Wir dürfen dabei nicht übersehen, dass 2022 selbst nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs die russischen Gaslieferungen in die EU noch für sechs Monate hoch waren. Nun jedoch sind die Nord-Stream-Pipelines zerstört und selbst im Fall einer Wiederannäherung von EU und Russland gäbe es für sechs bis zwölf Monate nicht die Möglichkeit von Lieferungen über Pipelines aus Russland. Die Zerstörung der Pipelines und China sind also die entscheidenden Faktoren, die für einen Wiederanstieg der Gaspreise sorgen werden.
Was wären die Folgen eines Wiederanstiegs der Gaspreise in Europa?
Das Ifo-Institut befragte Industrieunternehmen um die Jahreswende, ob diese bei den wieder deutlich niedrigeren Gaspreisen ihre Produktion in Europa aufrechterhalten können. Rund 60% haben geantwortet, dass sie selbst bei den wieder niedrigeren Gaspreisen ihre Produktion herunterfahren müssen. Das ist alarmierend. Wir gehen davon aus, dass Europa das Schlimmste noch bevorsteht. Europa war in vielen Bereichen industriell führend, nun wandern diese Industrien aufgrund der amerikanischen Subventionen und der hohen Energiekosten in Europa in die USA ab.
Das Interview führte