Zweifel am raschen Siegeszug der KI
Im Interview: Ann-Katrin Petersen
Zweifel am raschen Siegeszug der KI
Blackrock-Strategin glaubt nicht an einem raschen und breiten Produktivitätsschub – Sie setzt aber taktisch auf die großen KI-Gewinner
Ann-Katrin Petersen, Leiterin Kapitalmarktstrategie für Deutschland, Österreich, die Schweiz und Osteuropa beim Blackrock Investment Institute, erläutert im Interview, weshalb manche Anlegerhoffnungen in Sachen KI übertrieben sind und wo sie weltweit Chancen in der Aktienanlage sieht.
Frau Petersen, blicken wir zunächst auf das Marktumfeld. Was erwarten Sie in der zweiten Jahreshälfte und 2025 für die EZB und für die Fed? In welchem Umfang werden diese die Zinsen senken?
Wir gehen davon aus, dass der Zinssenkungsspielraum für beide Zentralbanken begrenzt ausfällt. Wir rechnen also eher mit einer „Zinswende light“ und daher nicht mit einem vollumfänglichen Zinssenkungszyklus, wie wir ihn in der Vergangenheit gesehen haben. Für die EZB, die ja im Gegensatz zur Fed bereits die Zinswende eingeläutet hat, bedeutet das konkret, dass wir noch zwei weitere Zinssenkungen für realistisch erachten, was mehr oder minder im Einklang steht mit der aktuellen Kommunikation der EZB. Für die US-Notenbank rechnen wir mit ein bis zwei Zinssenkungen noch in diesem Jahr. Die US-Notenbank dürfte also die Zinswende einläuten, allerdings sanft.
Ein großes Thema ist die politische Unsicherheit. Wir hatten Wahlen in Frankreich und Großbritannien, wobei es in Frankreich nun ein Parlament ohne klare Mehrheiten gibt. Welche Auswirkungen hat diese politische Unsicherheit in Europa auf die Märkte?
Man muss die politischen Entwicklungen gerade in Frankreich in einem größeren Kontext sehen. Wir erleben ein globales Superwahljahr, und es gibt viele Herausforderungen, mit denen die Regierungen zu kämpfen haben, nach der Krise der Lebenshaltungskosten der vergangenen Jahre, im Nachgang der Pandemie und in Europa natürlich auch als Folge der Energiekrise – und das bei einem begrenzten fiskalpolitischen Spielraum der aktuellen Regierungen. Dies hat eine Reihe von Regierungen unter Druck gesetzt, so auch in Frankreich. Mit Blick auf den französischen Rentenmarkt und Aktienmarkt ist der künftige Regierungskurs relevant für die Investoren. Dabei geht es auch um die gestiegenen Haushaltsrisiken in Frankreich. Fakt ist, dass die neue Regierung eine Neuverschuldungsquote erbt, die oberhalb des Maastricht-Kriteriums von 3% liegt. Die EU-Kommission hat ja bereits Warnungen ausgesprochen an die Adressen von Frankreich, Italien und anderen Mitgliedsländern. Fakt ist auch, dass S&P bereits Ende Mai das Rating Frankreichs heruntergestuft hat. Die neue Regierung erbt also eine herausfordernde fiskalpolitische Situation.
Welche Folgen könnte das für den Anleihemarkt haben?
Es ist durchaus möglich, dass sich der Spread, also die Risikoprämie französischer Staatsanleihen gegenüber Bundesanleihen, in einer etwas höheren Bandbreite einpendelt als vor Ankündigung der Wahlen. Vorher lag die Bandbreite bei ungefähr 50 bis 55 Basispunkten, das war aus fundamentaler Sicht ein eher enger Spread. Wir werden nun wahrscheinlich etwas höhere Niveaus sehen, natürlich auch in Abhängigkeit davon, wer die Regierung bildet und welche Ausgabenversprechen tatsächlich eingelöst werden. Das werden gerade Anleiheinvestoren im Blick behalten.
Was bedeutet die aktuelle politische Situation für den französischen Aktienmarkt?
Im Aktienmarkt gestaltet sich die Situation anders, denn der CAC 40 und auch der MSCI Frankreich sind stark von multinationalen Unternehmen geprägt. Nur etwa 15% der Erlöse der französischen Blue Chips sind direkt mit der heimischen Wirtschaft verbunden. Über 80% werden international generiert. Das ist natürlich eine andere Ausgangslage als am Rentenmarkt, an dem die Haushaltsrisiken eine größere Rolle spielen. Nichtsdestotrotz werden multinationale Unternehmen, die in Frankreich angesiedelt sind, grundsätzlich auf die Richtung blicken, in die sich die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Frankreich entwickeln. Frankreich hat, wie viele andere Länder auch, große strukturelle Themen zu bewältigen.
Welche sind das?
Neben der geopolitischen Zersplitterung weltweit ist der demografische Wandel eine große strukturelle Verschiebung. Das gilt auch für Frankreich. Eine damit im Zusammenhang stehende Frage ist, wie die Einwanderungspolitik in Frankreich zukünftig gestaltet wird, ob vor Ort genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen und wie teuer diese Arbeitskräfte sind. Wird es beispielsweise zu einer Anhebung des Mindestlohns kommen? Welche Sektoren werden stärker gefördert und welche weniger unter der neuen Regierung? Diese Rahmenbedingungen spielen natürlich eine Rolle. Aber – wie gesagt – der Aktienmarkt in Frankreich ist sehr international geprägt.
Blicken wir generell auf die Aktienmärkte. Wo sehen Sie jetzt im zweiten Halbjahr und darüber hinaus Chancen an den Aktienmärkten?
Wir sehen die größten Chancen auf Sicht der nächsten 6 bis 12 Monate zum einen im US-Aktienmarkt, getrieben durch den Vormarsch der künstlichen Intelligenz und die entsprechenden Nutznießer der künstlichen Intelligenz. Zum anderen sind wir nach wie vor zuversichtlich für den japanischen Aktienmarkt. In Japan überzeugen uns die Corporate-Governance-Reformen, die die Gewinnerwartungen bereits erhöht haben und weiter positiv entwickeln werden. Und die Bank of Japan normalisiert zwar die Zinsen, weil Japan es geschafft hat, das Deflationsgespenst zu vertreiben, aber sie geht dabei sehr sanft vor. Daher wir erwarten nach wie vor einen negativen Realzins in Japan. In der strategischen Perspektive, das bedeutet bei uns fünf Jahre oder länger, gehört Japan ebenso zu unseren Favoriten im Reigen der Industrieländer.
Wie sind Ihre Einschätzungen für die Emerging Markets, insbesondere hinsichtlich China?
Für die Emerging Markets sind wir taktisch neutral positioniert. Wir haben, was die mittelfristigen Wachstumsperspektiven Chinas anbelangt, einen eher verhaltenen Blick auf das Land und sehen Herausforderungen unter anderem angesichts der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung, im Immobilienbereich, aber auch mit Blick auf die Verschuldungssituation in manchen Segmenten Chinas.
Wo sehen Sie noch Probleme?
Zu beobachten ist nach wie vor Verunsicherung bei den chinesischen Konsumenten, wegen der es nicht zu einem Nachholeffekt beim Konsum gekommen ist, den man nach Ende der Lockdowns hätte erwarten können. Und natürlich spielen für uns auch geopolitische Risiken eine Rolle. Chinesische Assets sind aus unserer Sicht mit einer geopolitischen Risikoprämie behaftet. Das ist einer der Gründe, weshalb wir eher verhalten auf China blicken, sowohl taktisch als auch strategisch.
Sind Sie auch hinsichtlich der anderen Schwellenländer zurückhaltend?
Wir mögen eine Reihe von Emerging Markets. Wir glauben, dass Länder wie Indien und Mexiko von strukturellen Veränderungen profitieren. Dazu gehört der demografische Wandel, weil beide Länder in den nächsten 20 Jahren eine junge und wachsende Erwerbsbevölkerung verzeichnen werden, wohingegen China mit einem Minus der Bevölkerung um ungefähr 140 Millionen über die nächsten 20 Jahre wird rechnen müssen. Dem steht ein Plus der Erwerbsbevölkerung in Indien um ca. 120 Millionen gegenüber. Wir mögen Mexiko und Indien aber auch im Zusammenhang mit der Neusortierung der globalen Lieferketten. Das mexikanische verarbeitende Gewerbe profitiert von dem sogenannten „Nearshoring“ seitens der USA. Grundsätzlich sind wir aber hinsichtlich der Emerging Markets taktisch neutral positioniert. Strategisch sind wir jedoch übergewichtet, weil die Emerging Markets mit einem Bewertungsabschlag handeln, der so groß ist wie seit vier Jahren nicht mehr.
Das Stichwort KI ist bereits gefallen. Handelt es sich um berechtigte Hoffnungen oder um ein nur temporäres Phänomen und somit um Übertreibungen am Markt?
Wir gehen davon aus, dass auf Sicht der nächsten 6 bis 12 Monate eine fokussierte, konzentrierte Gruppe von KI-Gewinnern die Renditen antreiben wird. Die Hoffnung besteht mittelfristig darin, dass es zu einem Produktivitätsschub auf aggregierter volkswirtschaftlicher Ebene kommen wird, der auch das Wirtschaftswachstum über die Sektoren hinweg ankurbelt. Dieses Szenario von Produktivitätsgewinnen in der Breite ist in der kurzen Frist aber nur eines von mehreren möglichen Szenarien. Wir halten demgegenüber das Szenario einer Gruppe von konzentrierten KI-Gewinnern mit Blick auf einen taktischen Anlagehorizont für wahrscheinlicher. Aus unserer Sicht sind das die großen Technologieunternehmen, die Chiphersteller, aber auch Energie- und Versorgungsunternehmen. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit von Produktivitätsgewinnen durch künstliche Intelligenz in der Breite sind dagegen mit Ungewissheit behaftet.
Weshalb?
Schätzungen, wie sehr beispielsweise das US-Wachstum durch den Vormarsch der künstlichen Intelligenz mittelfristig angehoben werden könnte, rangieren zwischen 0,1 Prozentpunkten an zusätzlichem Wachstum pro Jahr und 1,5 Prozentpunkten per annum. Aus unserer Sicht ist der untere Bereich realistischer. Die Frage ist natürlich auch, wann sich tatsächlich auf aggregierter Ebene diese Vorteile materialisieren. Wenn wir an die Dampfmaschine denken, hat es 100 Jahre gebraucht. Und die Internetrevolution, die schon in den 1970er-Jahren begann, hat mehrere Jahrzehnte benötigt, bis sich die Produktivitätssteigerungen tatsächlich verwirklichten.
Warum profitiert der Energiesektor vom Siegeszug der KI?
KI-Rechenzentren sind sehr energie- und rohstoffintensiv. Das ist einer der Gründe, weshalb wir denken, dass KI in der kurzen Zeitspanne inflationär wirken könnte und nicht deflationär, wie vielfach gehofft, bevor sich dann mittelfristig kostensenkende Effekte realisieren.
Werfen wir einen Blick auf die Anleihemärkte im Umfeld sinkender Zinsen. Wo sehen Sie dort Chancen für Anleger?
Im Segment der Staatsanleihen mögen wir nach wie vor die kürzeren und mittleren Laufzeiten. Am langen Ende differenzieren wir sehr stark, schätzen dieses aus taktischer Sicht bei Industrieländern aber neutral ein, mit Ausnahme japanischer Staatspapiere. Übergewichtet sind wir beispielsweise in kurzlaufenden US-Staatsanleihen.
Warum?
Wir denken, das Thema Zinseinkommen bleibt aufgrund der strukturell höheren Zinsen aktuell. Wir sprachen bereits über den in den USA begrenzten Zinssenkungsspielraum. Gleichzeitig sollten Anleger im Hinterkopf behalten, dass wir uns in den wichtigsten Märkten für Staatsanleihen, also beispielsweise US-Staatsanleihen und deutschen Bundesanleihen, immer noch in einem Umfeld inverser Zinskurven befinden. Über die Zeit erwarten wir eine Normalisierung der Zinskurven, also einen Anstieg der Laufzeitprämie. Daher sind wir in US-Staatsanleihen strategisch untergewichtet. Wir denken, dass die Laufzeitprämie, also die Entschädigung, die Anleger fordern, um langlaufende Anleihen zu halten, steigen wird.
Gilt das insbesondere in den USA?
Das ist gerade in den USA der Fall, für die wir mit einem ungünstigeren fiskalischen Umfeld rechnen, auch im Vergleich zu Europa. Wenn wir auf die aktuellen Neuverschuldungsquoten als einen wichtigen Treiber der Schuldendynamik blicken und Europa mit den USA vergleichen, dann sieht es so aus, als werde sich die Schuldenstandsquote in den USA bis Ende des Jahrzehnts in Richtung 150% der Wirtschaftsleistung entwickeln und bis 2040 in Richtung 200%. In Europa gelten hingegen seit Beginn des Jahres wieder die Fiskalregeln, auch wenn es einzelne Länder geben wird, die es nicht schaffen werden, in diesem Jahr die 3%-Defizitregel einzuhalten. In Europa dürften sich die Neuverschuldungsquoten einengen, und die Staatsverschuldungsquote für den Euroraum als Ganzes dürfte sich stabil seitwärts bis leicht nach unten bewegen – im Gegensatz zu den USA.
Kommen wir auf das sich verschlechternde fiskalpolitische Umfeld in den USA zurück. Erwarten Sie das für alle denkbaren Wahlausgänge in den USA?
Ja. Wir erwarten sowohl unter einem demokratischen Präsidenten als auch unter einem republikanischen Präsidenten, dass die Neuverschuldungsquote im historischen Vergleich hoch bleibt. Der Rechnungshof in den USA setzt aktuell eine Budgetdefizit von mittelfristig rund 6% an, damit nur wenig niedriger als die 6,5%, die wir im Schnitt im Jahr 2023 beobachten konnten. Zu Jahresbeginn 2024 lag es sogar bei 7 bis 8%.
Gibt es noch weitere Aspekte, die Anleiheinvestoren berücksichtigen sollten?
Es gibt noch zwei weitere Gründe, weshalb wir für das lange Ende in der strategischen Perspektive weniger zuversichtlich sind. Zum einen sehen wir eine hartnäckig hohe und volatile Inflation, zum anderen die Tatsache, dass sich die Zentralbanken aus dem Markt zurückziehen – Stichwort Quantitative Tightening.
Betrachten wir kurz die Devisenmärkte. Rechnen Sie mit signifikanten Verschiebungen der Währungskurse in nächster Zeit?
Wir prognostizieren keine signifikanten Verschiebungen. Wenn wir beispielsweise auf das Währungspaar Euro-Dollar schauen, so gibt es zwei große Einflussfaktoren: zum einen die transatlantische Zinsdifferenz, zum anderen das Risikoumfeld. In der Tendenz hat die Tatsache, dass die Fed noch keine Zinswende eingeläutet hat und dass somit in diesem Jahr vermutlich auch nur ein bis zwei Zinsschritte erfolgen werden, den Dollar gestützt. Aber mit Blick nach vorne dürfte sich diese Zinsdifferenz einengen, wenn die Fed damit beginnt, die Zinsen zu senken.
Und was ist zum Risikoumfeld zu sagen?
Hier hängt es natürlich davon ab, inwiefern sich geopolitische Risiken tatsächlich materialisieren und inwieweit dann der Dollar als sicherer Hafen fungiert. Mit Blick auf die Wertentwicklung der globalen Börsen seit Jahresbeginn handelt es sich um ein tendenziell risikofreudiges Umfeld, in dem wir uns befinden. Das könnte sich so fortschreiben.
Blicken wir abschließend auf alternative Anlageklassen. Wo sehen Sie in diesem Bereich interessante Gelegenheiten für Anleger?
Wir gehen davon aus, dass die Nachfrage nach bestimmten Rohstoffen, unter anderem einigen Industriemetallen, langfristig strukturell höher bleiben wird. Das liegt zum einen am Übergang zu einer CO2-ärmeren Welt, zum anderen aber auch am Vormarsch von künstlicher Intelligenz, weil der Aufbau von Daten- und Rechenzentren wie erwähnt sehr rohstoff- und energieintensiv ist. In diesen Märkten haben wir teilweise eine vorherrschende Knappheit des Angebots. Und der zu erwartende Investitionsboom dürfte auch der Anlageklasse Infrastruktur zugutekommen.
Zur Person: Ann-Katrin Petersen ist Leiterin Kapitalmarktstrategie für Deutschland, Österreich, die Schweiz und Osteuropa beim Blackrock Investment Institute (BII). Sie verantwortet in der Region die Vordenkerrolle im BII zu globalen Wirtschafts- und Investmentthemen. Darüber hinaus ist Petersen Mitglied des globalen taktischen Asset-Allocation-Teams und Co-Leiterin des europäischen Allokationsteams. Die Diplom-Volkswirtin begann ihre berufliche Laufbahn 2010 in der volkswirtschaftlichen Abteilung der Allianz SE und war anschließend als Kapitalmarkanalystin und Investmentstrategin im Bereich Global Economics & Strategy von Allianz Global Investors tätig, bevor sie 2022 zu Blackrock wechselte. Sie absolvierte ihr Volkswirtschaftsstudium an den Universitäten Bayreuth und Nottingham. Darüber hinaus hält sie einen Bachelor of Arts in „Philosophy & Economics“ und ist CFA-Charterholder.
Das Interview führte Dieter Kuckelkorn. Die vollständige Version lesen Sie auf www.boersen-zeitung.de