ESG-Berichterstattung

Nachhaltigkeit für Rechnungs­legung berechenbar machen

So gut der Standardsetter ISSB für Frankfurt ist, so schwierig dürfte der Diskurs über eine neue ESG-Berichterstattung werden, falls sie den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung folgen soll.

Nachhaltigkeit für Rechnungs­legung berechenbar machen

Wer die Debatte über Sustainability Reporting oder deutsch Nachhaltigkeitsberichterstattung verfolgt, der weiß, dass seit vielen Jahren über die Integration nachhaltiger Aspekte der Unternehmensführung in die Finanzberichterstattung diskutiert wird – zunehmend nicht nur „grüne“, sondern alle Environmental-, Social- und Governance-Aspekte, die ESG-Aspekte.

Die Autoren haben 2015 an dieser Stelle formuliert, dass „Integrated Reporting Unternehmen smarter machen kann“, womit die Einbindung von nichtfinanziellen und damit auch nachhaltigen Leistungsindikatoren in die Berichterstattung gemeint war. Das damalige relativ neue Integrated Reporting Framework ˂IR˃ hat aber nur sehr begrenzt funktioniert, und dies aus zwei Hauptgründen:

Zum einen blieben alle Ansätze zwiegespalten, weil keine aus der Rechnungslegung kommenden integrierbaren Standards vorliegen. Das kann man an den nach wie vor überwiegend getrennten Geschäfts- und Nachhaltigkeitsberichten erkennen (selbst wenn sie in einem „Buch“ zusammengefasst werden).

Zum anderen blieben Finanzvorstände (CFOs), die wesentlich für die Erstellung des Jahresabschlusses und des Geschäftsberichts verantwortlich sind, zu Recht reserviert, ungeprüfte Zahlen und sonstige „weichere“ Informationen so zu kommunizieren wie „harte“ Finanzkennzahlen.

Das scheint sich nunmehr zu ändern, weshalb wir in diesem Beitrag auf eine die Nachhaltigkeit integrierende Berichterstattung zu­rückkommen: Denn die Interna­tionalen Standardsetter für Rechnungslegung und Berichterstattung, an der Spitze der International Accouting Standards Board (IASB), nehmen sich der Nachhaltigkeitsstandardsetzung an. Sie bringen mit Partnern das International Sustainability Standards Board (ISSB) mit Sitz in Frankfurt auf den Weg. Angesichts der zukünftigen Bedeutung des Sustainability Reporting ist das ein großer Erfolg für Frankfurt im Wettbewerb der internationalen Börsenplätze.

„Kind“ der Rechnungslegung

Mit dem ISSB könnte aus unserer Sicht jetzt ein erfolgversprechenderer Weg beschritten werden, weil es ein „Kind“ der Rechnungslegung ist. Das heißt, es geht im Kern gar nicht um „Nachhaltigkeitsberichterstattung“, sondern um „Nachhaltigkeitsstandardsetzung für die Berichterstattung“. Das ISSB heißt ja auch International Sustainability Standards Board, so wie es auch International Accounting Standards Board heißt, welches die Standards für das International Financial Reporting (IFRS) formuliert.

Das ist keine Wortklauberei, sondern ein essenzieller Unterschied. Wenn das ISSB Sinn haben soll, dann müsste Nachhaltigkeit auf Basis der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung standardisiert durchgerechnet, verbucht und darüber berichtet werden. Das wäre ein deutlicher Fortschritt vor allem für institutionelle Investoren, aber auch ESG-Ratingagenturen, Proxy Advisors und auch andere ESG-Reporting-Ansätzen, weil sie endlich „richtige“ Standards hätten. Das ISSB steht im Zen­trum dieses neuen Denkens.

Warum kann das unserer Meinung nach der Königsweg sein? Während der Reifegrad der vertrauten Grundsätze unzweifelhaft hoch und bereits sehr komplex ist, verbleibt es bei den Informationsgrundsätzen der bisherigen Nachhaltigkeitsberichterstattung regelmäßig bei weniger aussagekräftigen Schlagworten. Das kann nicht verwundern: Praktisch alle Initiativen – wie GRI für Global Reporting Initiative – sind durch die Praxis getrieben, folgen also einem eher induktiven Regulierungsverständnis.

Neue „GoB“

Deshalb ist es nun entscheidend, Informationsgrundsätze aus dem Sinn und Zweck der Normen abzuleiten. Man müsste dann, etwa in Analogie zu Adolf Moxter, den Rahmengrundsätzen der Entscheidungs- und Adressatenbezogenheit folgen. Will man etwa als Adressatenkreis einer zukünftigen Nachhaltigkeitsberichterstattung „die interessierte Öffentlichkeit“ verstehen, muss sich diese Öffentlichkeit für Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung (GoB) interessieren und zwischen Standard und Diskurs mitrechnen, was wie kalkulierbar ist. Aus den „alten“ GoB würden „neue“ GoB: die Grundsätze ordnungsgemäßer ESG-Berichterstattung.

Das ist ein hehrer Anspruch, schließlich ist schon die normale ordnungsgemäße Berichterstattung un­gemein komplex und unübersichtlich. Das ISSB hat bereits mit zwei ersten Exposure Drafts IFRS S1 und S2 begonnen, sich an der Fachdiskussion zu beteiligen, wie „Sustainable Disclosure Standards“ eingeführt werden könnten. Wie könnten am Ende der Diskussion denn Grundsätze ordnungsmäßiger ESG-Berichterstattung aussehen? Zwei wesentliche Klärungen müssen dafür getroffen werden:

1. Klärung der Adressaten­orientierung:

Die bisherige Finanzberichterstattung hat mit den Share- und auch Bondholdern klare primäre Adressaten: Neben der Zahlungsbemessungsfunktion steht die auf die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens gerichtete Informationsfunktion. Das Verständnis darüber, was für die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage an Informationen erforderlich ist, hat sich allerdings im Zeitablauf erheblich erweitert: Auch die nicht­finanziellen Informationen – also Angaben zum Beispiel über die Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit, das intellektuelle Kapital oder die Corporate Governance eines Unternehmens – erscheinen immer mehr Investoren relevant. Denn die eigentlich zunächst nichtfinanziellen Leistungsindikatoren können schnell zu finanziellen Konsequenzen führen, wenn sich beispielsweise schlechte Corporate Governance in Reputationsschäden oder schlechte Kundenzufriedenheit in sinkenden Umsätzen niederschlagen.

Hier treffen sich der um nichtfinanzielle Aspekte erweiterte Shareholder-Value-Ansatz und der Stakeholder-Ansatz. Wer etwa Kunden- oder Mitarbeiterzufriedenheit als für den Unternehmenswert wichtige Einflussgrößen be­trachtet, muss eben auch Kunden und Mitarbeiter hierzu befragen. Es erscheint dann nachgerade selbstverständlich, dass sich diese Stakeholder-Gruppen auch dafür interessieren, was das Unternehmen diesbezüglich berichtet. Herausfordernd wird der Stakeholder-Ansatz für die Berichterstattung allerdings dann, wenn sich das Unternehmen einer Vielzahl heterogener Stakeholder-Gruppen gegenübersieht. Statt lediglich einem professionellen Share- oder Bond-Investor als Adressaten der Finanzberichterstattung gegenüberzutreten, steht man dann Adressaten einer Berichterstattung gegenüber, von denen oftmals nicht einmal klar ist, welche konkreten Ziele diese verfolgen.

Die erste Entscheidung auf dem Weg zu einer ordnungsgemäßen ESG-Berichterstattung aus Sicht des Standardsetters müsste deshalb sein, dass nur diejenigen Stakeholder-Interessen in der ESG-Berichterstattung berücksichtigt werden sollten, deren Auswirkungen auf den Shareholder ordnungsgemäß verbucht werden können. Diese Entscheidung wird ein Abwägungsprozess sein, der nicht ohne breiteren Diskurs zu klären sein wird. Leitlinie muss dabei sein, dass die neue integrierte ESG-Berichterstattung nicht noch komplexer wird als die alte Finanzberichterstattung. Die Strategie für das ISSB müsste deshalb sein, dass das Primat der Shareholder-Adressierung bestehen bleibt.

Hier stehen sich das ISSB und die European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) fast diametral gegenüber; denn die EU-Taxonomie ist eher eine EU-Kakophonie. Darauf haben jüngst auch die Präsidenten der Association française des entreprises privées (AFEP) und des Deutschen Aktieninstituts (DAI) in einem Schreiben an den zuständigen EU-Kommissar hingewiesen: „The complexity of EU sustainability reporting standards could undermine their effectiveness.“ Auch Daniela Favoccia, Partnerin bei Hengeler Mueller und Mitglied der Corporate-Governance-Kommission, berichtete in der Börsen-Zeitung am 8. April 2022 über eine Befragung unter deutschen Aufsichtsratsvorsitzenden und CFOs, dass „mit der EU-Taxonomie und den EU-Vorschlägen zur Sustainable Corporate Governance… große Unsicherheit und bürokratischer Aufwand einhergeht“. Hier besteht also Klärungsbedarf.

2. Klärung des regulatorischenUmfelds:

An der schon jetzt rasant gestiegenen Nachhaltigkeitskomplexität sind die Unternehmen nicht ganz un­schuldig: Indem sie an unzähligen Soft-Law- und privatrechtlichen Initiativen zur ESG-Thematik teilnehmen, weil dies vor allem von Investoren gefordert wird, verpflichten sie sich eben auch, deren teilweise widersprüchliche Informationsansprüche zu erfüllen: Institutionelle Investoren wie Blackrock & Co. erwarten ebenso ESG-Informationen wie Proxy Advisors, spezialisierte ESG-Ratingagenturen oder Initiativen wie das World Business Council for Sustainable Development (WBCSD), das Carbon Disclosure Project (CDP) oder auch das freiwillige Befolgen der UN Sustainable Development Goals. So weit ist das auch gut und recht, aber nicht wirklich sauber gerechnet. Gerade auf der Ebene der freiwilligen ESG-Berichtsinitiativen herrscht eine für die Unternehmen kaum noch zu bewältigende Vielfalt. Das muss in Zukunft besser reguliert werden und dem Soft Law dort entzogen werden, wo es in eine „harte“ ESG-Berichterstattung nach ISSB integriert werden soll. Das ISSB steht quasi im Zentrum eines neuen Level Playing Field.

Ein Beispiel für die alte „Vielfalt“: Der International Integrated Reporting Council (IIRC), zuständig für das er­wähnte ˂IR˃ Framework, richtet sich primär an Investoren. Nach diesem Framework basiert ein Bericht aber dennoch auf integriertem Denken über die Wertschöpfung einer Organisation im Zeitablauf und die damit verbundene Information über Aspekte wie Strategie, Corporate Governance, Performance und Zukunftsaussichten. Es berücksichtigt dabei sechs verschiedene Kapitalien, ne­ben dem Finanzkapital auch das intellektuelle Kapital, das Humankapital, das Sach­an­lage­kapital, das Sozialkapital und die natürlichen Ressourcen. Es geht also in dem Rahmenkonzept im Kern darum, den Wertschöpfungsprozess umfassend in verschiedenen Dimensionen darzustellen.

Es kann nicht überraschen, dass ein solches Konzept, das individuelle Geschäftsmodelle in den Mittelpunkt stellt, in der Praxis auch zu sehr individuellen integrierten Berichten führt. Das ist schwer zu standardisieren, auch wenn es beispielsweise bei Dekarbonisierungsprozessen bereits ganz gut funktioniert, weil man ziemlich genau rechnen kann, was man für die CO2-Reduktion investieren und/oder von Lieferanten einfordern muss und was es am Ende der Produktionskette „bringt“. Grundsätzlich kann man jedoch sagen, dass es beim „E“ noch recht gut machbar ist, beim „S“ schon schwieriger und beim „G“ fast unmöglich wird – aus Sicht der Rechnungslegung und Berichterstattung wohlgemerkt. Und dann wäre da auch noch die Frage, wofür man das Kapital von „grünen“ bzw. ESG-Bonds, die günstiger sein mögen, denn investiv einsetzen darf. Für alle drei Buchstaben?

Konsolidierung als Ausweg

Der Ausweg aus diesem regulatorischen „Berichterstattungsdschungel“ liegt in der Konsolidierung der Standardsetzer und Initiativen. Damit muss sich das ISSB auf EU-Terrain mit der geplanten EU-Taxonomie auseinandersetzen. Während es bei IASB immer „gegen“ US-GAAP ging, geht es beim ISSB nun eher „gegen“ die EU, weil beim ISSB die Amerikaner über das SASB dabei sind. Im Kern ist das die zweite Entscheidung, die auf dem Weg zu einer sinnvollen internationalen ESG-Berichterstattung zu fällen sein wird. Denn die Europäische Union hat im April dieses Jahres einen Vorschlag für eine Nachhaltigkeitsberichterstattungsrichtlinie veröffentlicht, mit der die bisherige Berichterstattung im Rahmen der nichtfinanziellen Erklärung deutlich ausgeweitet werden soll. Der EU-Ansatz folgt dem Primat der Stakeholder-Orientierung, die aus unserer Sicht deutlich schlechter „ordnungsgemäß“ verbucht werden kann. Damit sind solche Initiativen mitnichten schlechter, sondern nur schlechter zu berechnen.

Und die Zeit drängt: Die EU plant nämlich, die Nachhaltigkeitsberichte als zwingenden integrierten Teil des Lageberichts zu verankern, die dort ab dem am 1. Januar 2023 beginnenden Berichtsjahr zu gebenden Informationen prüfungspflichtig zu machen und den Anwendungsbereich deutlich auszuweiten – auf alle großen Unternehmen, unabhängig von ihrer Kapitalmarktorientierung, und ab 2026 in begrenzten Umfang auch auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Ziel der EU-Regulierung soll nicht weniger sein, als mit den neuen Berichtsanforderungen einen Beitrag zum Übergang zu einem nachhaltigen und inklusiven Wirtschafts- und Finanzsystem zu leisten, das in Einklang mit dem europäischen Green Deal und den UN Sustainable Development Goals steht. Problematisch an diesem Regulierungsansatz ist zum jetzigen Zeitpunkt, dass sich die Europäische Union auf Standards zur Nachhaltigkeitsberichterstattung stützt, die noch nicht oder allenfalls im Entwurf existieren.

Gretchenfrage

Nimmt man beide aus unserer Sicht notwendigen Abklärungen zusammen, besteht ein Spannungsfeld zwischen einer Shareholder-Adressierung und einer Stakeholder-Orientierung für die nachhaltige integrierte und damit ordnungsgemäße ESG-Berichterstattung. Mit anderen Worten: Die Gretchenfrage für die zukünftige Berichterstattung ist noch offen: Sagt, Standardsetter, wie haltet ihr es denn mit ESG? Und damit ist anders als in Goethes Faust nicht nur eine Person beziehungsweise Institution gemeint, sondern deren mindestens zwei Ansätze für die zukünftige Berichterstattung. Die Frage trifft im Kern das erste der beiden vorhin gemachten Eingeständnisse, dass bis dato die integrierte Berichterstattung nur sehr begrenzt funktioniert.

Diese buchhalterische Gretchenfrage kann man auch noch anders stellen, wenn man in Unternehmen hineinfragt: Sagt, CFO und CEO, wie haltet ihr es denn mit ESG? Auch hier sind zwei Personen beziehungsweise Verantwortlichkeiten genannt. Dass, wie zuvor festgestellt, bisherige Ansätze – bei allen guten Vorsätzen – oft an den CFOs gescheitert sind, hat etwas mit der mangelnden standardisierten Shareholder-Orientierung beziehungsweise den unklaren Auswirkungen der nachhaltigen Unternehmensführung zu tun. Im Kern ist die Frage nach ESG deshalb eine Frage für den gesamtverantwortlichen CEO gegenüber den Shareholdern, die dem Unternehmen das Kapital geben. Denn nachhaltig berichten kann man nur über eine gesamthafte nachhaltige Unternehmensführung!

Stakeholder integrieren

Als mit der Universität St. Gallen (HSG) verbundene Autoren wird man uns sicher nicht unterstellen, dass wir nicht um die überragende Bedeutung des Stakeholder-Ansatzes wissen. Schließlich haben Hans Ulrich und Walter Krieg schon vor 50 Jahren mit dem damals visionären St. Galler Management-Modell die Stakeholder in den Mittelpunkt des unternehmerischen Handelns gestellt. Auch Shareholder sind nur Stakeholder, deren Interessen ausgeglichen werden müssen. Insofern muss die neue Nachhaltigkeitsstandardsetzung Stakeholder-Interessen für Shareholder berechenbar machen.

Nur dann kann man beispielsweise unternehmerische Entscheidungen treffen, wann man zugunsten oder zulasten welcher Stakeholder eine Abwägungsentscheidung trifft. Für Shareholder bedeutet das im Zweifel einen Renditezuschlag oder -abschlag. Denn eines ist klar: Unternehmen sind Teil der Gesellschaft und haben ihr zu dienen. Nachhaltigkeit muss man aber ausrechnen – und auch ausdiskutieren! – können. Um den Artikel mit einer provokanten Synthese zu beenden: Die Diskussion der ESG-Berichterstattung gehört in den gesellschaftlichen und fachlichen Diskurs: Sozusagen „Fridays for the Future of Sustainable Reporting“. Schließlich will niemand Greenwashing, aber eben auch keine Bilanz(ver)fälschung.