Differenzen im EZB-Rat nehmen zu
ms Frankfurt
EZB-Chefvolkswirt Philip Lane plädiert dafür, bei der Einschätzung der weiteren Inflationsentwicklung besonders auf den Lohntrend und die Inflationserwartungen zu schauen – wobei er bei beiden Indikatoren derzeit keinen Grund für allzu große Sorgen sieht. Zugleich hält er die sogenannte Kernrate, die Energie und Lebensmittelpreise ausklammert und die aktuell im Euroraum ebenfalls auf einem Rekordniveau liegt, derzeit für weniger hilfreich als Gradmesser, wie er in einem am Freitag veröffentlichten Blog auf der EZB-Homepage ausführte. Lane unterfüttert damit de facto auch seine vorherige Aussage, dass Jumbo-Zinsschritte wie zuletzt nicht mehr angezeigt seien.
Mit seinen Aussagen stellt sich Lane auch gegen jene Euro-Notenbanker, die sich wegen der Inflationsentwicklung weiterhin sehr alarmiert zeigen. Diese verweisen insbesondere auch auf die Kernrate, die gemeinhin als besserer Gradmesser für den zugrundeliegenden Preisdruck in einer Volkswirtschaft gilt, und sie sind deswegen gegen ein Nachlassen bei den kräftigen Zinserhöhungen. Erst am Donnerstagabend hatte EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel gesagt, dass die EZB eine Lohn-Preis-Spirale im Vorfeld verhindern müsse und dass deswegen kaum Spielraum für langsamere Zinsschritte bestehe.
Die widersprüchlichen Aussagen belegen die zunehmenden Differenzen im EZB-Rat über die weitere Inflationsentwicklung und den nötigen geldpolitischen Kurs. Die Inflation im Euroraum lag im Oktober bei 10,6% – so hoch wie nie. Die Kernrate liegt bei 5,0%, was ebenfalls ein Rekordhoch bedeutet. Die EZB hat nach einigem Zögern im Juli die Zinswende eingeleitet und ihre Leitzinsen seitdem um insgesamt 200 Basispunkte und damit so aggressiv wie nie erhöht. Zugleich nimmt aber die Wahrscheinlichkeit einer Rezession zu. Deswegen wird um den weiteren EZB-Kurs immer härter gerungen.
Lane argumentiert nun in seinem ungewöhnlich langen Blog zur Inflationsdynamik insbesondere, dass das Augenmerk derzeit auf der Lohnentwicklung und den Inflationserwartungen liegen müsse. Die Löhne würden in den nächsten Jahren ein Haupttreiber der Inflation sein. Da Lohnerhöhungen in vielen Schritten erfolgten, werde es mehrere Jahre dauern, bis sich die Löhne an den Anstieg der Lebenshaltungskosten anpassten. Zuletzt habe sich die Lohndynamik zwar verstärkt, aber aus seiner Sicht kein besorgniserregendes Ausmaß angenommen. Das müsse aber beobachtet werden. Zu den Inflationserwartungen schreibt Lane, dass die langfristigen Indikatoren bislang recht stabil im Bereich des 2-Prozent-Ziels verharrten.
Einen zu starken Fokus auf die Kernrate hält Lane dagegen aktuell für wenig sinnvoll. Auch die Kerninflationsraten seien derzeit stark von den rasant gestiegenen Energiepreisen beeinflusst und eigneten sich daher nicht als Messgrößen für den mittelfristigen Inflationsdruck. Anderen Euro-Hütern gilt die Kernrate dagegen als Indiz für ein sich ausbreitendes Inflationsproblem.