Migration bringt Lateinamerika an seine Grenzen
Die Landenge von Darién ist ein furchterregendes Hindernis. Ein fast 100 Kilometer breiter Gebirgsgürtel, bewachsen von tropischem Regenwald, durch den keine Straße führt und in dem keine Staatsmacht herrscht. Der Grenzstreifen zwischen Kolumbien und Panama galt seit Jahrhunderten als Rückzugsgebiet für kriminelle Banden, Malaria-Moskitos, Schlangen und Wildkatzen. Als unpassierbar. Aber im Jahr 2021 haben mehr als 133 000 Migranten den Gewaltmarsch bewältigt, der acht bis zehn Tage dauern kann. Und nun sagen Hilfsorganisationen, dass die Zahl der Darién-Migranten 2022 deutlich zugenommen hat. Sie registrieren zudem, dass sich immer öfter ganze Familien auf die gefährliche Reise machen. Mindestens 5 000 Kinder zählte die Hilfsorganisation World Vision zwischen Januar und Juni 2022.
Bis vor wenigen Jahren mussten Migranten auf dem Weg nach Norden Schiffe besteigen im kolumbianischen Golf von Urabá, die sie bis nach Panama brachten. Aber weil immer mehr Flüchtlinge sich diese Passage nicht mehr leisten konnten, begannen die Treks über die Landbrücke. So sind es vor allem die Ärmsten, die sich auf diesen so gefährlichsten Weg begeben. Im Jahr 2021 waren die meisten Darién-Migranten Haitianer, die in Brasilien und vor allem in Chile kein Glück fanden und dieses nun in den USA suchen wollen. Ebenso wie die Venezolaner, die 2022 die größte Gruppe im Darién stellten, vertrieben vom katastrophalen Zerfall ihrer Heimat.
Exodus aus Venezuela
Aber die Behörden in Panama haben auch Migranten aus Afrika und Asien aufgegriffen. Aus China vor allem. Aber auch aus Staaten wie Angola, Eritrea, dem Iran, Pakistan und Kirgisien, Länder, deren Bürgern von Donald Trump die reguläre Einreise in die USA untersagt worden war. In den letzten fünf Jahren hat die Migration in Lateinamerika und der Karibik außergewöhnlich stark zugenommen. Während ein Großteil des Anstiegs auf konkrete Anlässe in einigen Ländern zurückzuführen ist – vor allem den Beginn der systematischen Repression in Venezuela 2017 oder die gewaltsame Niederschlagung von Protesten in Nicaragua und Kuba – waren die Auswirkungen in fast allen Ländern der Region deutlich spürbar.
Dabei haben die Wanderungsbewegungen innerhalb des Kontinents im letzten Jahrzehnt um 66 % zugenommen, was viele Regierungen vor massive Herausforderungen gestellt hat. So sind etwa 80 % der – laut UN – inzwischen 7,1 Millionen Flüchtlinge aus Venezuela in anderen Staaten Lateinamerikas untergekommen und nicht im reichen Norden. Allein das Nachbarland Kolumbien hat mehr als 1,5 Millionen Venezolaner aufgenommen, und auch Peru und Ecuador haben Hunderttausende Venezolaner integriert. Die Venezolaner besitzen im Vergleich zu den Haitianern zwei Vorteile: die gemeinsame spanische Sprache sowie der deutlich einfachere Zugang zu Arbeitserlaubnissen. Das erklärt sich mit zwischenstaatlichen Abkommen aus dem wirtschaftlich deutlich erfolgreicheren ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts.
Vor allem erklärt sich die Zunahme der Migration in andere lateinamerikanische Staaten auch mit einer restriktiveren Politik der Vereinigten Staaten. Die Regierung von Joe Biden hat zwischen September 2021 und Juni 2022 mehr als 26 000 haitianische Flüchtlinge in deren Heimat zurückgeflogen. Fast alle dieser Abschiebungen wurden auf Basis von „Title 42“ durchgeführt, eines Paragrafen des Seuchenrechts. Unter Verweis auf mögliche Ansteckungsgefahr konnten die Behörden die Aufnahme eines Asylverfahrens vorzeitig unterbinden und Flüchtlinge einspruchslos aus dem Land schaffen.
Diese Rechtsauslegung war bereits von der Regierung Trump eingeführt worden und wurde von Biden beibehalten. Nach dem erklärten Ende der Pandemie sollte der Paragraf eigentlich seit Juni deaktiviert sein, aber er ist – unter großem Protest von Menschenrechtlern und Hilfsorganisationen – weiter in Funktion, weil einige Gouverneure gegen die Aufhebung vor Gericht Einspruch einlegten. Auch mit den kubanischen Behörden haben die USA inzwischen Kontakt aufgenommen, um illegale Flüchtlinge auf die Zuckerinsel zurückzuführen. Im Jahr 2019 waren etwa 1500 Kubaner abgeschoben worden, aber nach Ausbruch der Pandemie wurde diese Praxis eingestellt. Jetzt soll sie wieder aufgenommen werden, vor allem wohl, um migrationswillige Kubaner abzuschrecken.
Zwischen September 2021 und September 2022 haben die US-Behörden 220 000 kubanische Flüchtlinge registriert, die über Mexiko in die USA flüchten wollten. Das ist ein Rekordwert und bedeutet eine dramatische Zunahme gegenüber den Vorjahren. 2020 hatten US-Grenzschützer 14 000 Kubaner auf, in 2021 waren es 39 300. Die Gründe für den Exodus aus Kuba sind vielfältig: die miserable Versorgungslage infolge der internationalen Preissteigerungen für Lebensmittel und Energie, die Nachwirkungen eines zerstörerischen Hurrikans, die immer schärfere politische Repression und auch der fehlende Glaube an eine Änderung des politischen und ökonomischen Systems auf der Insel.
Andere Ländern der Region besitzen wohl zwar kein sozialistisches Wirtschaftsmodell, das seine Bürger in die Auswanderung treibt, leiden aber unter extrem hoher Kriminalität. Vor allem die Angst vor Übergriffen krimineller Banden hat Zigtausende mittelamerikanische Familien auf den Verzweiflungstrek in Richtung Norden gebracht. Die US-Regierung hat die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation Zentralamerikas zu einer der Prioritäten in der Region erklärt. Vor allem im „nördlichen Dreieck“ aus Guatemala, Honduras und El Salvador will die Biden-Administration Investitionen nordamerikanischer Unternehmen sehen. Beim Amerika-Gipfel Anfang Juni präsentierte Vizepräsidentin Kamala Harris Zusagen von US-Konzernen über Investitionen in Höhe von 3,2 Mrd. Dollar in Mittelamerika.
Angesichts des stetig steigenden Flüchtlingsstroms aus Venezuela schlossen die USA im Oktober eine Vereinbarung mit Mexiko über die Aufnahme von illegal in die USA eingereisten Venezolaner. Also praktisch ein Abkommen, um all jene wieder loszuwerden, denen es gelungen ist, sich über die Fluchtrouten durch die Darién-Enge und ganz Mittelamerika bis in die USA durchzuschlagen. Nun haben die USA jährlich 24 000 offizielle Green Cards für Venezolaner in Aussicht gestellt.
Fachkräfte wandern ab
Während den USA vor allem die illegale Einwanderung Sorgen bereitet, ist es in Lateinamerika die legale Migration. Sämtliche Staaten südlich des Rio Grande erleben eine Abwanderung der klügsten Köpfe nach Norden. Nach einem Jahrzehnt des wirtschaftlichen Stillstands, deutlich reduzierter Investitionstätigkeit und massiv abgespeckter Forschungsbudgets der Universitäten registrieren selbst große Einwanderungsländer wie Brasilien und Argentinien einen spürbaren Brain Drain. So ist etwa die Zahl der Brasilianer, die im Ausland einen Hochschulabschluss erwerben, stark gestiegen und liegt jetzt bei über 70 000. Es ist davon auszugehen, dass viele derjenigen, die im Ausland studieren, dort auch ihre berufliche Laufbahn beginnen und mit wahrscheinlich nicht zurückkehren werden. Die Abwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte betrifft die gesamte Gesellschaft: Ärzte, Wissenschaftler und Unternehmer nehmen ihre Netzwerke, Ideen ebenso mit wie ihre Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen und Steuern zu zahlen. Zudem multipliziert sich die Auswanderung nicht selten, weil Fachleute, die sich im Ausland niederlassen, dort oft auch Beschäftigungsmöglichkeiten für ihre ehemaligen Kollegen finden.
Auf der anderen Seite locken die unter zunehmenden Fachkräftemangel leidenden entwickelte Länder auf der Nordhalbkugel die Latino-Eliten auch immer gezielter an. Portugal, wo inzwischen eine halbe Million Brasilianer lebt, hat zur Jahresmitte die Regelung eingeführt, dass ab sofort sämtliche Bürger aus Portugiesisch sprechenden Staaten ein halbes Jahr Zeit bekommen, um sich in Portugal einen Job zu suchen. Und das Parlament in Madrid hat im Herbst beschlossen, spanische Pässe an all jene auszugeben, die mit Dokumenten beweisen können, dass ihre Vorfahren zwischen 1936 und 1975 vor der Franco-Diktatur ins Ausland migrieren mussten. Allein in Argentinien können sich nun Hunderttausende Hoffnungen auf einen europäischen Pass machen. Und einen Neuanfang jenseits des Atlantiks. Womöglich auch in Deutschland.
Von Andreas Fink, Buenos Aires