Nachschubprobleme kosten Firmen 64 Mrd. Euro
ba Frankfurt
Die deutsche Industrie wird derzeit von zwei Seiten in die Zange genommen: einerseits von den hohen Energiekosten, andererseits immer noch vom Lieferkettenstress. Auch wenn sich in beiden Fällen derzeit leichte Entspannungstendenzen zeigen, wird die komplette Entwarnung noch lange auf sich warten lassen.
Zwei Studien geben nun Empfehlungen, wie sich die deutsche Industrie zukunftssicher aufstellen sollte: So empfiehlt das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung mehr Lagerreserven, Diversifikation und Nachhaltigkeit der Lieferketten, denn bis Mitte 2022 hätten die Nachschubprobleme knapp 64 Mrd. Euro an Wertschöpfung gekostet. Hätten alle seit Anfang 2021 eingesammelten Neuaufträge abgearbeitet werden können, wäre das Bruttoinlandsprodukt Ende 2021 um 1,2% und Mitte 2022 um 1,5% höher gewesen.
Die PwC-Strategieberatungstochter Strategy& wiederum mahnt Investments in Dekarbonisierung und erneuerbare Energien an. Auch wenn die hiesige Industrie günstiger als im EU-Schnitt produzieren könne, gerieten Schlüsselsektoren der deutschen Wirtschaft unter enormen Druck und könnten abwandern. In einem Linkedin-Beitrag warnte auch VW-Vorstand Thomas Schäfer, dass Deutschland und die EU „rasant an Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit“ verlieren – insbesondere mit Blick auf die Gas- und Stromkosten. Wenn es nicht gelinge, die Energiepreise rasch und verlässlich zu senken, seien Investitionen in energieintensive Produktion oder in neue Batteriezellfabriken in Deutschland und der EU „praktisch nicht mehr darstellbar“, mahnte Schäfer: „Die Wertschöpfung in diesen Bereich wird anderswo stattfinden.“
Auch Strategy& streicht in der Studie „Business Impact Energy Prices“ heraus, dass sich die gestiegenen Energiekosten in Europa außergewöhnlich stark auswirkten. Dies könnte massive Verschiebungen der Wirtschaftsstruktur bis hin zu einer Deindustrialisierung auslösen. Als Ursache für die stark variierenden Auswirkungen der gestiegenen Energiekosten innerhalb der EU gilt der unterschiedliche Energiemix. Länder wie Frankreich oder Spanien hätten etwa einen höheren Anteil von Atomstrom und erneuerbarer Energien im Vergleich zur starken Abhängigkeit von russischem Öl und Gas in Ländern wie etwa Polen. Die hiesige Industrie wird der Studie zufolge insbesondere von den deutlich gestiegenen Gaspreisen getroffen – allen voran die Metallindustrie, aber auch Schlüsselsektoren wie die Automobil- oder Chemiebranche.
In den meisten Sektoren liegen die Produktionskosten wegen des vergleichsweise diversifizierten Energiemixes unter dem EU-Durchschnitt (siehe Grafik). Die gestiegenen variablen Kosten würden aber in fast allen Industriezweigen „erheblich auf die Margen drücken“ – in der Automobilindustrie etwa stürze der Gewinn infolge einer Preissteigerung von 15% bei den variablen Produktionskosten von 7,5% auf knapp 2,5% ab. Dem IMK zufolge ist die Wertschöpfung der Automobilindustrie seit 2021 trotz zahlreicher Bestellungen um knapp 31 Mrd. Euro geringer ausgefallen.