Start-ups hoffen auf Durchbruch der Flüssigbiopsie
Anshu Jain hat dem Krebs lange die Stirn geboten. 2017 war die Krankheit erstmals bei dem ehemaligen Chef der Deutschen Bank diagnostiziert worden. Gestorben ist er im August 2022. Er lebte somit vier Jahre länger als ursprünglich von seinen Ärzten prognostiziert. Möglich gewesen sei das durch „eine Kombination aus gründlicher persönlicher Recherche, taktischem Geschick, unglaublichem Pflegepersonal und schierer Willenskraft“, wie seine Familie in einem Brief geschrieben hatte.
Das zeugt natürlich von Kampfgeist. Was aber bleibt, ist, dass Jain mit 59 Jahren sehr früh gestorben ist. Das durchschnittliche Sterbealter bei Krebserkrankungen lag zuletzt bei über 70 Jahren.
Letztlich macht die Krankheit aber ohnehin vor keiner Altersgruppe Halt. Sie ist noch immer die zweithäufigste Todesursache weltweit. Im Jahr 2020 starben laut der WHO knapp 10 Millionen Menschen an Krebs. Und laut Schätzungen dürften die Zahlen weiter nach oben gehen.
Um der Entwicklung etwas entgegenzusetzen, forschen Wissenschaftler und Unternehmen schon seit langem intensiv an Methoden, um Krebs zum einen möglichst frühzeitig zu entdecken und die Chancen auf eine erfolgreiche Therapie zu steigern. Zum anderen liegen die Hoffnungen in der sogenannten Präzisionsmedizin, also der individuell auf den Patienten zugeschnittenen Behandlung. Dank modernster molekularbiologischer Untersuchungsmethoden wird vor allem Zweiteres schon heute zunehmend zur Realität.
Einfacher, schneller, öfter
In den vergangenen Jahren hat in dem Zusammenhang ein neuartiges Verfahren besondere Aufmerksamkeit erlangt: die sogenannte Flüssigbiopsie. Anders als bei der konventionellen Biopsie, bei der im Rahmen eines chirurgischen Eingriffs eine Gewebeprobe aus der verdächtigen Stelle im Körper entnommen wird, um zum Beispiel eine Krebserkrankung zu bestätigen oder auszuschließen, wird bei der Flüssigbiopsie eine Blutprobe entnommen und auf Tumorzellen beziehungsweise Tumor-DNA untersucht.
Für den Patienten sowie für den Arzt hat das viele Vorteile. Vor allem ist das Verfahren weitaus schonender und das Risiko für Komplikationen ist geringer. Bestimmte Krebsarten wie etwa Hirn- oder Lungentumore sind zudem für eine normale Gewebeentnahme nur schwer zugänglich, weswegen die traditionelle Biopsie zum Teil unter Narkose erfolgen muss. Dazu kann es oft auch mehrere Wochen dauern, bis die Biopsieergebnisse vorliegen. Das ganze Prozedere lässt sich aus all den genannten Gründen natürlich nicht beliebig oft wiederholen, obwohl es für die Überwachung des Krankheitsverlaufs eigentlich nützlich wäre.
Mit der Flüssigbiopsie ist das schon eher machbar. Auch bietet sie die Möglichkeit, wo es notwendig ist, mittels molekularer Tumorprofilierung eine passgenaue Behandlungsmethode für Patienten in fortgeschrittenem Stadium zu ermitteln. Genau darauf zielt unter anderem das 2021 gegründete Schweizer Start-up Hedera Dx ab, das sich im September in einer Seed-Finanzierungsrunde 14 Mill. Euro an Startkapital gesichert hat. Angeführt wurde die Runde von Adam Ghobarah, Gründer von Top Harvest Capital und ehemaliger langjähriger Manager bei Google und Google Ventures. „Die Qualität des Gründungsteams war wirklich herausragend“, sagte er der Börsen-Zeitung. „Man braucht in diesem Bereich viel Erfahrung in der fortgeschrittenen medizinischen Diagnostik.“ Bei den drei Gründern handelt es sich um den Genetik-Experten Tommi Lehtonen, den Healthtech-Manager Damien Lapray und um den Facharzt für Innere Medizin und klinische Pharmakologie und langjährigen Roche-Manager Christian Meisel.
Hedera will für Krankenhauslabore eine Kombination aus laborinternen Tests und einer Analyse-Software anbieten. Die Software ist seit Herbst auf dem Markt, Anfang nächsten Jahres sollen die Tests hinzukommen, die zunächst vornehmlich auf die Profilierung von Lungenkrebs ausgerichtet sind.
„Die Labore erhalten nach der Analyse einen Bericht, in dem vereinfacht gesagt steht: In diesem Tumor wurden diese molekularen Veränderungen gefunden, und für diese Veränderungen sind diese fünf Medikamente zugelassen und könnten bei dem Patienten potenziell wirken. Und dies sind die drei Medikamente, von denen wir auf Basis des molekularen Profils wissen, dass der Patient gegen diese resistent sein wird“, erklärt Meisel im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Eine solche Rundum-Lösung, „die vom Anfang bis zum Ende nahtlos funktioniert, also von der DNA-Sequenzierung über die Datenanalyse bis hin zum Bericht“, gebe es bisher noch nicht.
Die rasanten Entwicklungsschritte, die in den vergangenen Jahren in der personalisierten Medizin zu beobachten waren, stimmen Meisel auf jeden Fall zuversichtlich: „Es ist gigantisch, wie viele Medikamente es inzwischen gibt, die für molekular definierte Subgruppen von Krebspatienten zugelassen sind“, sagt er. Das Ganze habe ungefähr im Jahr 2010 seinen Lauf genommen, „aber allein in den letzten drei, vier Jahren ist die Zahl dieser Präzisionsmedikamente in der Onkologie nochmals exponentiell gestiegen.“
Früherkennung unausgereift
Die Software von Hedera sei denn auch als CE-IVD-Medizinprodukt registriert, sie genügt also den zahlreichen regulatorischen Anforderungen an In-vitro-Diagnostika. Beobachter sehen in dem aktuell bestehenden sehr komplexen und teils auch unausgegorenen Rechtsrahmen für solche neuartigen Medizinprodukte einen von vielen Gründen für die bislang schleppende Einführung von Flüssigbiopsie-Tests in Krankenhäusern.
Ein anderer wichtiger Grund bezieht sich auf den Einsatz von Flüssigbiopsien zur Früherkennung von Krebs. Denn dort ist die Zuverlässigkeit der Ergebnisse von entscheidender Bedeutung und eine äußerst heikle Angelegenheit. Denn wenn der Test einen gesunden Menschen fälschlicherweise als krebskrank identifiziert, ist das genauso katastrophal, wie wenn er einen Menschen als gesund einstuft, der eigentlich schon Tumor-DNA in sich trägt. In der Wissenschaft ist hier von den zwei kritischen Parametern Spezifizität und Sensitivität die Rede.
Bei der Sensitivität, also der Fähigkeit, Personen korrekt zu identifizieren, die wirklich an Krebs erkrankt sind, besteht noch ein Dilemma: Sie hängt von der Tumorgröße ab. Je fortgeschrittener der Krebs, umso größer ist die Erkennungsrate und umgekehrt. So liegt etwa die Sensitivität von „Galleri“, einem der derzeit wohl bekanntesten blutbasierten Früherkennungstests, der vom US-Unternehmen Grail hergestellt wird, im fortgeschrittenen Stadium IV bei über 90 %. In Stadium III sind es noch 84 %. Im Stadium II sind es schon keine 80 % mehr. Und im frühen Stadium I sind es gerade einmal noch etwas über 34 %.
Es stellt sich also die Frage nach dem Nutzen, zumal die Tests nicht billig sind. Der Listenpreis für Galleri liegt derzeit bei 949 Dollar. „Manche Ärzte sagen uns: Warum soll ich einen Flüssigbiopsie-Test verwenden, wenn ich schon vorher weiß, dass der Test vielleicht nicht gut genug ist, um Krebs im sehr frühen Stadium zu erkennen?“, sagt Vincent Meunier, Healthcare-Experte und Managing Director bei der Investmentbank Bryan, Garnier & Co. Gerade hierin sieht er noch Potenzial für Verbesserungen, die derzeit aber auch stattfänden. „Das sollte ein entscheidender Treiber für die Marktdurchdringung sein“, so Meunier.
Versicherungen zahlen nicht
Aus Sicht von Meisel kommt noch etwas anderes hinzu: „Es gibt für die Flüssigbiopsie noch keine universelle Erstattung durch die Krankenversicherungen.“ Der Hedera-CMO sieht darin momentan eine deutliche Hürde für den breiten Einsatz bei Krebspatienten. „Es gibt einzelne Regionen in manchen Ländern, wo die Kosten bereits erstattet werden, zum Beispiel in Italien. Es dauert aber wahrscheinlich noch Jahre, bis die Kosten für eine Flüssigbiopsie in Europa und weltweit flächendeckend von Versicherungen übernommen werden.“ Auch Galleri wird derzeit, aufgrund fehlender Zulassung durch die US-Arzneimittelaufsicht FDA, von den meisten Versicherungen noch nicht abgedeckt. In Deutschland hatte sich zuletzt im Oktober die Hanse Merkur als erste private Versicherung entschieden, die Kosten für einen blutbasierten Krebs-Früherkennungstest von der hessischen Diagnostikfirma Zyagnum zu erstatten.
Aus der Wissenschaft kam diesbezüglich Kritik – unter anderem wegen des Risikos falsch positiver Testergebnisse. Auch die Datenlage sei unzureichend, wie es hieß. Generell weisen Onkologen regelmäßig darauf hin, dass die Flüssigbiopsie vornehmlich noch als ergänzendes Verfahren erachtet werden sollte. Die traditionelle Gewebediagnostik bleibe hingegen „Goldstandard“, so das Fazit auf dem 35. Deutschen Krebskongress, der in dieser Woche stattfand.
Großes Marktpotenzial
Mit Blick auf die Möglichkeiten, die sich aus den Anwendungsfällen der Flüssigbiopsie ergeben, und die erwartete zunehmende Verbreitung kommen Investoren trotzdem nicht umhin, auch jetzt schon mal einen Blick auf das kommerzielle Potenzial zu werfen. Noch liegt der jährliche Umsatz bei gerade einmal rund 1 Mrd. Dollar, wie Pitchbook-Analyst Aaron DeGagne in einer jüngsten Studie erläuterte. Langfristig könne der weltweit adressierbare Markt jedoch über 100 Mrd. Dollar ausmachen, vor allem dann, wenn die Flüssigbiopsie zunehmend Teil von jährlichen Routineuntersuchungen werde. Weil das Thema noch recht jung sei, bestehe auch für Start-ups die Möglichkeit, sich noch ein Stück vom Kuchen zu sichern. „Zwar sind die meisten der derzeit führenden Flüssigbiopsie-Unternehmen börsennotiert“, schreibt DeGagne. „Doch der Markt entsteht gerade erst, und der relativ niedrige Grad der Verbreitung bietet VC-gestützten Flüssigbiopsie-Start-ups eine Gelegenheit.“
Und von solchen gibt es einige. Neben Hedera Dx haben sich in Europa in den vergangenen Jahren unter anderem Saga Diagnostics aus Schweden, Vortex Biosciences aus Großbritannien, OncoDNA aus Belgien und Stilla Technologies aus Frankreich in Stellung gebracht. In den USA gingen Wettbewerber wie Scipher Medicine, Predicine, Lucence und Protean Biodiagnostics an den Start.
Für Bryan-Garnier-Manager Meunier ist somit klar, dass sich das Thema Flüssigbiopsie absehbar weiterentwickeln wird. „Vor fünf Jahren stand die Sache noch ganz am Anfang“, sagt er. „Aber auch wenn die Einführung langsam verläuft und auf einem niedrigen Level bleibt, wird sie doch schrittweise stärker und besser akzeptiert. In den nächsten fünf Jahren sollte es weitere Verbesserungen geben und dann, zum Ende der Dekade, dürfte es Teil einer Routineuntersuchung sein.“
Von Karolin Rothbart, Frankfurt